Tote erzählen besser
Delphi
Malin Schwerdtfeger mag unsympathische Figuren. Daher bevölkern auch ihren neuen Roman "Delphi" eine ganze Reihe nicht besonders liebenswerter Charaktere. Eine Familie steht im Mittelpunkt der Handlung - allerdings eine Familie, die es in sich hat.
8. April 2017, 21:58
Was für eine Familie! Der Vater hetzt als Archäologe von einer Ausgrabungsstätte zur nächsten, die Mutter sucht nach ihrer Selbstverwirklichung und glaubt, sie in Jerusalem in Form einer jüdisch-orthodoxen Sekte gefunden zu haben, Tochter Linda gaukelt der Welt vor, sie sei ein hochbegabtes Kind, Sohn Robbie versucht, seine Liebe zu seiner Schwester zu kanalisieren, indem er sie schlägt und beleidigt.
Die Erzählerin gibt es nicht mehr
Und dann sind da noch die beiden Jüngsten, das Baby Pepita und die Erzählerin, die Drittälteste, namenlos und eigentlich schon gar nicht mehr vorhanden - denn gleich am Beginn des Buches wird klar, dass dieses Kind bereits tot ist.
Mich gibt es nicht. Mich gibt es nicht mehr. Ich erinnere mich an nichts. Ich erinnere mich nicht an Pepita. Ich erinnere mich nicht an Robbie. Ich erinnere mich nicht an Linda. Ich erinnere mich nicht daran, wie Linda wütend durch das Haus rannte, wenn sie sich mit Robbie gestritten hatte. (...) Daran muss ich mich nicht erinnern. Es geschieht jetzt in diesem Augenblick und immer und immer wieder. Nicht die Lebenden erzählen von den Toten, sondern umgekehrt.
Gegensätze Linda und Robbie
Und doch kann diese Erzählerin, die immer blass und schemenhaft bleibt, berichten, von den großen und kleinen Sorgen ihrer Geschwister, von ihren egozentrischen Eltern und von ihren Großeltern in Norddeutschland, die einen Friedhof für Ertrunkene betreiben.
Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Geschwister Linda und Robbie, die sich angesichts des elterlichen Desinteresses eine eigene Welt zurechtzimmern. Während Linda sich in die Welt des Wissens flüchtet, das Rationale sucht, steht Robbie für Emotion und Gefühl, er möchte sich, wie Malin Schwerdtfeger sagt, in die Erde wühlen - und bleibt daher auch ein bloßer Mitläufer.
Nicht, dass niemand Linda mochte, im Gegenteil, die meisten Leute mochten sie sehr, aber auf eine Art, die deutlich machte, dass sie Lindas Gesellschaft nicht wegen ihrer Nettigkeit schätzten, sondern weil sie unterhaltsam, überspannt und überschäumend fröhlich war. Jeder Versuch, an Lindas Seite ein netter Bursche und angenehmer Zeitgenosse zu sein, war von vornherein zum Scheitern verurteilt und erzeugte nichts als Langeweile. Also war Robbie lieber ungestüm als freundlich, er war das Tier an Lindas Seite, das kraftvoll dahinstürmende, gelehrige und manchmal unartige Tier, das seine Herrin abwechselnd beschützte und tyrannisierte.
Hintergründig und feinsinnig
Das Orakel von Delphi spielt im Roman eine heimliche Hauptrolle. Linda kennt die Sprüche des Orakels und setzt sie in die Wirklichkeit um, aber auch der Ort an sich wird Schauplatz der Handlung, als die Familie nach Athen umzieht.
Für Malin Schwerdtfeger hat das Orakel von Delphi eine ganz besondere Bedeutung: "In Delphi kombiniert sich Rationalität und Mystik. Das Orakel vereint zwei große Götter, Dionysos und Apollon, also quasi Verstand und Gefühl."
Mit "Delphi" hat Malin Schwerdtfeger einen hintergründig-feinsinnigen Roman geschrieben, der Themen wie Familienleben und Erwachsenwerden auf ungewöhnliche Art und Weise umsetzt. Und vielleicht hat sich die Autorin ja mit ihrem Buch auch einen heimlichen Traum erfüllt: "Meine Lieblingsart, gelesen zu werde, ist, dass man am Ende noch mal von vorne anfängt. Dass man am Ende sagt, oh, jetzt muss ich noch mal zum Anfang zurückgehen. Das ist mein Traum."
Buch-Tipp
Malin Schwerdtfeger, "Delphi", Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3462034022