Über die Sikhs und den Adi Granth

Mein Guru, das Buch

Wie ein Fisch im Wasser bewegt sich der Mensch in Gott, heißt es im Adi Granth, dem heiligen Buch der Sikhs: "Wo immer ich auch hingehe, ich sehe nur Dich; und springe ich aus Deinem Wasser, sterbe ich an Trennung."

Publizist und Autor Kushwant Singh über Lieblings-Gurus

Die Sikhs sind eine relativ junge Religion. Die stattlichen Erscheinungen mit Turban und Armreif gehören einer Tradition an, die aus einem Amalgam von Hinduismus und Islam entstanden ist. Im Adi Granth, dem heiligen Buch, finden sich die Spuren der Hindu-Mystik genauso wie die der indischen Sufis. Guru Nanak, der Gründer der Sikhs, hat bei seinem Tod das heilige Buch zum Guru, zum immerwährenden Lehrer, eingesetzt.

Heuer im September haben die Sikhs den 400. Jahrestag der Installierung des Buches im Tempel von Srinagar gefeiert. Dass heute Kaschmir, die Heimat der Sikhs, zu einer der blutigsten Zonen der Welt gehört, weil hier Hindus und Muslime einander bekämpfen, ist wie ein tragisches Postskript.

"Die Tür des Gottes" im 22. Wiener Gemeindebezirk

Ein flacher Bau in Wien im 22. Bezirk, jenseits der Donau, zwischen Fabriken Lagerhallen und Wohnblocks. Ein hoher Mast, auf dem ein ausgebleichter orangefarbener Wimpel flattert. In Indien ist das ein sicheres Zeichen, dass sich hier ein Tempel befindet. Hier, im 22. Wiener Bezirk, flattert der Wimpel über dem Gurudwara der Sikhs. Wörtlich heißt das: "die Tür des Gottes". Tritt man durch die Blechtür, ist man plötzlich in Indien: Männer mit den typischen farbigen Turbanen der Sikhs und den ebenfalls typischen wallenden Bärten, Frauen im Sari, und alle sprechen miteinander Pandjabi, die Sprache der Heimat der Sikhs.

In einer Ecke sitzen zwei Leute vor einem Riesenwok, in dem typisches indisches Zuckergebäck in Öl schwimmend herausgebacken wird. In einem anderen Raum, einer Küche, sind zehn Leute - Männer und Frauen - dabei, Chapathi herzustellen. Während sie mit ungeheurem Tempo aus Teigkugeln flache Fladen formen und sie auf der heißen Herdplatte garen, singen sie Kirtan - Hymnen aus dem heiligen Buch der Sikhs, dem Adi Granth. Darin heißt es:

"Wie ein Stock in der Hand eines Blinden ist der Name Gottes für uns."

Alle sind barfuß oder in Socken. Im Eingangsraum stehen die Schuhe der Besucher ordentlich in Regalen, und in einer Kiste stehen gelbe Kopftücher für Besucher bereit. Denn in den Tempel darf man nur barfuß und mit Kopfbedeckung.

Der erste Guru

Rund 14 Millionen Sikhs gibt es weltweit, die allermeisten leben in Indien, im Pundjab. In Österreich gibt es rund 2500 Sikhs, die meisten davon leben in Wien. Der Name Sikh kommt von "shishya", das heißt auf Sanskrit: Schüler. So wurden Anhänger von Guru Nanak, dem ersten Guru der Sikhs, genannt.

Der Sikhismus ist eine relativ junge Religion. Guru Nanak lebte von 1469 bis 1539 im Panjab in Indien, aber auch auf Reisen, die ihn bis nach Mekka in Saudiarabien brachten. Er und seine neun Nachfolger werden von den Sikhs als Manifestationen des göttlichen Lichts verehrt.

Die Bedeutung des gemeinsamen Essens

Guru Nanak betonte in seinen Botschaften immer wieder die Wichtigkeit der Gemeinschaft, und so ist das bis heute bei den Sikhs. Auch in Wien treffen sie sich regelmäßig, auch unter der Woche, um miteinander zu beten. Für die Sikhs ist aber auch das Essen ein wichtiges Symbol. Für europäische Ohren klingt das vor allem nach einer karitativen Haltung, dass allen Hungrigen zu essen gegeben werden soll. Doch für indische Ohren hat das gemeinsame Essen viel mehr Gewicht. Denn in Indien trennt das Essen die Menschen nach Kasten: Ein Brahmane wird nicht mit einem aus den unteren Kasten gemeinsam essen. Daher war die Bestimmung von Guru Nanak, dass nur die Leute mit ihm sprechen durften, die zuerst in der Küche mit allen zusammen gegessen hatten, wirklich revolutionär. Und weil die Küche so ein wichtiger Ort war, hat Guru Nanak selbst als Koch oder auch als Geschwirräscher mitgearbeitet, wird erzählt.

"Herr Buch" - das Granth Sahib

Guru heißt ganz einfach Lehrer. Der eigentliche Lehrer, der eigentliche Guru der Sikhs, ist ihr heiliges Buch, das Adi Granth oder Granth Sahib, wörtlich "Herr Buch“, wie sie sagen. Heuer feiern die Sikhs den 400. Geburtstag des Granth Sahib. Kushwant Singh, einer der angesehensten Publizisten Indiens und Verfasser einer zweibändigen Geschichte der Sikhs, sagt:

"Das Granth Sahib unterscheidet sich von anderen religiösen Texten wie z. B. die Bibel oder dem Koran oder den Veden u. s. w. insofern, dass es eklektisch ist. Im Granth Sahib gibt es neben den Sikh-Gurus auch die Schriften von Muslim-Heiligen, von Hindus, die aus verschiedenen Teilen des Landes und aus verschiedenen Kasten stammen. In diesem Sinn ist es einzigartig, denn es ist nicht nur auf die Lehre der Gurus beschränkt, sondern schließt auch andere Denker der Zeit mit ein - auch aus früheren Epochen."

Das "Mool Mantra"

Jedes Gebet und jede religiöse Zeremonie der Sikhs beginnt mit dem "Mool-Mantra“, das Guru Nanak verfasst hat:

"Es gibt einen Gott. Er ist die höchste Wahrheit. Er, der Schöpfer, ist ohne Angst und Hass. Er, der Allgegenwärtige, durchdringt das Universum. Er ist ungeboren, und er stirbt auch nicht, um wiedergeboren zu werden. Ehe die Zeit war, war die Wahrheit. Als die Zeit begann, ihren Lauf zu nehmen, war er die Wahrheit. Auch jetzt ist er die Wahrheit. Immerwährend wird die Wahrheit dauern."

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