Übertragung als Mittel zum Zweck

Wenn das Auge hört

Im Zentrum dieser "Zeit-Ton"-Ausgabe zum Thema "Übertragung" steht der Komponist Bill Fontana. In seiner Konzeption dient Übertragung dazu, die in unserer Kultur hauptsächlich über das Sehen vorgenommene Benennung der Welt zu hinterfragen, zu irritieren.

Übertragung ist für Bill Fontana Mittel zum Zweck und diesen Zweck benennt er - ausgehend von einer als Initialzündung erlebten totalen Sonnenfinsternis 1976 und dem überraschenderweise vor allem auch akustischen "finster werden" - sehr genau:

"Dieses verblüffende akustische Ereignis zeigte mir, wiesehr in unserer normalen Welterfahrung die akustische Sensibilität ignoriert wird. Von diesem Moment an wurde die Transformation und Dekonstruktion des Verhältnisses vom Visuellen zum Akustischen meine bewußte künstlerische Arbeit."

Über das Sehen die Welt hinterfragen

In Fontanas Konzeption dient Übertragung dazu, die, wie er betont, in unserer Kultur hauptsächlich über das Sehen vorgenommene Benennung der Welt zu hinterfragen, zu irritieren. "Mit Hilfe einer Klanginstallation zwei verschiedene physikalische Orte durch das Medium des permanenten Zuhörens zu verbinden, hat sich als eine der fruchtbarsten Methoden entwickelt. Mikrophone an dem einen Ort ermöglichen, das Klangkontinuum an einen anderen Ort zu übertragen, wo man sie durchlaufend als transparente Überlagerung des optischen Ortes hören kann.

Da diese akustischen Überlagerungen eine Illusion von Permanenz erzeugen, beginnen sie, mit den zeitlichen Aspekten des optischen Ortes zu interagieren. Dieses hebt die bekannte Identität eines Ortes auf, indem sie sie belebt mit Evokationen vergangener Identitäten, die mit dem akustischen Gedächtnis des Ortes spielen, oder indem sie die visuelle Identität des Ortes dekonstruiert, indem sie ihm eine vollkommen neue akustische Identität einflößt, die stark genug ist, mit der optischen Identität in Wettbewerb zu treten."

Wieder ins Bewusstsein versetzen

Der Schwerpunkt der Idee in Fontanas Übertragungen liegt nicht darauf, dass er aus einer sozial oder kulturell anderen Welt überträgt - Boris Groys’ Valorisierungsspiele - und auch nicht aus einer vielleicht vergangenen Epoche beziehungsweise einem nicht mehr erreichbaren Naturzustand - Friedrich Schillers Sentimentalisches - , sondern darauf, das Semantische von Klängen durch ihre Versetzung wieder ins Bewusstsein zu rücken.

Wenn er Nebelhörner aus einer Bucht in die Stadt überträgt wie in San Francisco, wechselt er dabei nicht einmal die Art des sinngebenden Bezugssystems und Schiffsverkehrssignale interagieren plötzlich mit Autoverkehrssignalen. Wenn er den Klang des nahe liegenden, strengem Naturschutz unterliegenden Auwalds auf den zentralen Platz zwischen den beiden größten Museen einer Stadt überträgt wie in Wien, spielt er mit dem Gegensatz zwischen dem Artifiziellsten von Zivilisation und dem Natürlichsten, das sich dieselbe Zivilisation zu inszenieren weiß.

Großes im Sinne von Symbolwirkung

Bill Fontana hat eine offensichtlich Vorliebe nicht nur einfach für Großes im Ausmaß, sondern auch für Großes im Sinne von Symbolwirkung, weil dies den Wirkungsgrad der Irritation seiner Übertragungen bedeutend steigert:

Die Brooklyn Bridge und das World Trade Cener, die Ruine des Berliner Anhalterbahnhofs, der Pariser Arc de Triomphe sind allesamt nicht einfach Orte, sondern Symbole, aufgeladen mit nicht nur visueller, sondern auch historischer Semantik, die akustischen Irritationen gerade dadurch besonders ausgeliefert sind.

"Sonic Topographies of Jerusalem"

Eines seiner größten Projekte harrt noch der Realisierung, weil sich Bill Fontana mit Jerusalem einen Ort ausgesucht hat, dessen Symbolwirkung auf jenen Energien beruht, die so ernsthafte Konfliktzonen produzieren, dass bis jetzt kein Spielraum zur Realisierung von dieser Art von Kunst blieb:

In "Sonic Topographies of Jerusalem" möchte Bill Fontana gleichzeitig in Jerusalem und via Satellitenübertragung an vielen weiteren Orten der Welt ein akustisches Bild dieser Stadt entstehen lassen. "Jerusalem ist, wie Venedig, eine der akustisch transparentesten Städte der Welt, schon, weil es innerhalb der Altstadtmauern keinen Autoverkehr gibt. Deswegen können sich die klanglichen Details von Jerusalems einzigartiger Vermischung alltäglichen Lebens mit durchgehenden muslimischen, jüdischen und christlichen Gebeten im öffentlichen Raum so gut durchdringen und vermischen. Dieses Projekt würde die Reise der Klänge durch die natürliche Ruhe von Jerusalem kontinuierlich darstellen und vermessen. Dieser Aspekt des Projekts wird ein spontaner akustischer Kubismus sein, hervorgerufen durch die Gleichzeitigkeit von sechzehn Zuhörperspektiven, die sechzehn Mikrophonpositionen in Jerusalem entsprechen. (...) In diesem kubistischen Klangportrait von Jerusalem werden sich viele Klangfelder überlagern und damit eine verblüffende Komplexität von gleichzeitigen Ereignissen und überraschenden Echos erzeugen."

Ins Bewusstsein holen

In Bill Fontanas Konzeption trifft die existierende Semantik akustischer Bilder auf die existierende Semantik der optischen Bilder jenes Ortes, an dem die Übertragung manifest wird. Die Versetzung des Tones rückt ins Bewusstsein, dass dem Klingenden ungewusst etwas eingeschrieben gewesen ist. Das zuvor Ignorierte, nicht Wahrgenommene wird ins Bewusstsein geholt und damit, in Freudscher Terminologie, nicht wiederholt, sondern durchgearbeitet.

Buch-Tipp
Das Buch "Übertragung - Transfer - Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen", herausgegeben von Sabine Sanio und Christian Scheib (Kerber Verlag, 2004), erscheint diese Woche und wird am Samstag im Grazer Kunsthaus (17:00 Uhr) im Rahmen einer Diskussion zum Thema mit den Kulturwissenschaftlern Wolfgang Ernst und Andrea Allerkamp präsentiert.

Links
Resoundings
musikprotokoll 2004