Juden in der Türkei

Vom Immigranten- zum Emigrantenland

Lange bevor es einen türkischen Staat gab, lebten Juden in Anatolien. Doch ob die 50 Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Ankara das 100-Jahr-Jubiläum ihrer Synagoge in vier Jahren noch feiern werden, ist fraglich.

Statements über türkisch-jüdische Mischehen

In der ehemaligen mittelalterlichen Ahrida-Synagoge in Istanbul, das heute als Museum zugängig ist, markieren Davidsterne auf einer großen Landkarte der Türkei die jüdischen Gemeinden. "Die Türkei als Einwanderungsland und als friedliche Heimat für verfolgte Juden" - das ist das Motto dieses Museums, das genau 500 Jahre nach der Vertreibung der Juden aus Spanien seine Pforten öffnete.

Heute leben 22.000 Juden in Istanbul, 1.500 in Izmir, 50 in Adana, Ankara, Bursa, Canakali und Antakya, 10 in den europäischen Städten Kirklareli und Edirne. Die Türkei ist vom ehemaligen Einwanderungs- zum Auswanderungsland mutiert. Wie kam es dazu?

Die Wurzeln der Emigration

Bei Gründung der türkischen Republik 1923 durch Kemal Atatürk lebten über 100.000 Juden im Lande, fast alle waren Sfaradim. Sie ließen sich vom neuen Patriotismus mitreißen und verzichteten auf die Minderheitenrechte, die ihnen gewährt worden waren und ihre religiöse Autonomie garantierten.

"Die neue republikanische Elite wollte eine türkische Nation formen, daher sollten alle Bürger Türkisch sprechen", sagt der jüdische Historiker Rifat Bali:

“In der Entstehungszeit der türkischen Republik waren die türkischen Juden der Sündenbock der türkischen Presse und der Intellektuellen, weil sie kein Türkisch sprachen, sondern Ladino oder Französisch, das sie in den jüdischen Allianz-Schulen lernten. Man warf ihnen vor, die Sprache des Landes ihrer Vertreibung vor 400 Jahren zu sprechen. So benehme man sich nicht, hieß es. Das war für die Juden ein großes Problem“.

Weitere Vorwürfe unter Atatürk

Neben der Kritik, kein ausreichendes, akzentfreies Türkisch zu sprechen wurde den Juden auch vorgeworfen, für das Vaterland keinen Blutzoll erbracht zu haben, die Türkei auszubeuten und keine Loyalität gegenüber dem türkischen Staat aufzubringen.

1934 kam es im europäischen Teil der Türkei zu einem antijüdischen Pogrom. Die Plünderungen und Attacken trieben rund 10 000 thrakische Juden zur Flucht. 1942 beschloss die türkische Regierung eine Vermögenssteuer, wobei Juden und anderen Nichtmuslimen ein sehr viel höherer Steuersatz auferlegt wurde als Muslimen. Wer nicht zahlen konnte, wurde verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert. Diese Kopfsteuer übertrug nicht nur Kapital von Minderheiten an die Muslime, sondern markierte auch das endgültige Scheitern des Projekts einer bürgerlichen Gesellschaft.

Holocaust-Statements

Obwohl die Türkei im Zweiten Weltkrieg neutral blieb, setzten sich türkische Diplomaten für die Rettung von Juden ein, sagt der Historiker Naim Güleryüz, Gründer und Kurator des Jüdischen Museums in Istanbul. Zwar haben alle türkischen Juden den Holocaust überlebt, aber die Rettungsaktionen von Juden würden überbewertet, um die türkische Geschichte reinzuwaschen, meint hingegen der Historiker Rifat Bali. Er betont, dass die Türkei den meisten jüdischen Einwanderern die Einreise verweigerte.

1948 - die Wende

1948 markiert eine Wende in der jüdischen Geschichte der Türkei. Zum ersten Mal wurde das Einwanderungsland zum Auswanderungsland für Juden. Ein enorm wichtiger Faktor für die Verdichtung des Antisemitismus im islamistischen Spektrum war die Gründung des Staates Israel. Die türkischen Islamisten sahen sich als Teil der Umma, der weltweiten islamischen Gemeinde. Als solcher empfanden sie den Krieg von 1948, an dessen Ende die Etablierung Israels stand, als kollektive Niederlage.

Exodus nach Militärputsch

Der antisemitische Diskurs hält bis heute an. Am intensivsten wurde er im extrem nationalistischen und im islamistischen Spektrum geführt. In den turbulenten 70er Jahren, die von Gewalt zwischen politischen Extremisten geprägt waren und im Militärputsch von 1980 endeten, wanderten rund 8.500 Juden aus. Und obwohl die türkischen Einwanderer in Israel enge Verbindungen zu ihren alten Gemeinden pflegten, stellten sie durch ihre Ausreise die Zukunft der schrumpfenden Gemeinden in Frage.

Vom Antisemitismus zum Terror

Der wachsende Antisemitismus gipfelte in den beiden Terrorangriffen vom 15. November 2003 auf zwei Synagogen in Istanbul. Es waren die verheerendsten, aber keineswegs die einzigen antisemitischen Gewaltaktionen türkischer Islamisten in der jüngeren Geschichte. Und obwohl jüdische Funktionäre gebetsmühlenartig beteuern, dass sie sich sicher fühlen, wirken sie dennoch misstrauisch und zurückhaltend. Ob die 50 Juden in Ankara in vier Jahren noch das 100-jährige Jubiläum ihrer Synagoge erleben werden, ist daher fraglich.

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