Robert Schindels Erfahrungen mit dem Medium Radio

Nachtigallen

50 Jahre ist es her, im Stadionbad, da hörte Robert Schindel die Stimme von Heribert Meisel. Das WM-Spiel Österreich-Schweiz. Zwischen den Zuhältern, Bankangestellten, feschen Katzen und Buchhaltern saß er und verfolgte das WM-Match. Sieben zu fünf für Österreich!

Er hörte eine männliche Stimme sprechen. Sie kam aus dem Radio.

Wir leben ja auf einem nachhaltig beschallten Planeten. Die Einsamkeiten unseres sich mehr und mehr ausdifferenzierenden Erdenlebens sind zwischen den Hertztönen eingezwängt. Dem sukzessiven Verstummen lebenserfahrener und mit Gemeinheiten gestriegelter Seelen setzt sich ein beharrliches Bebrüllen durch mediale Apparate gegenüber. Der Vieltausende Jahre währende Sound der Ozeane, der Grillenkonzerte, der Katzenmusiken und der Mückenschwärme ward abgelöst über Spinnrad und Dampfhammer von der Soundmaschine. Um sich dies zu vergegenwärtigen, möchte ich mir die Räumlichkeiten des Hölderlinturms zu Tübingen nach achtzehnhundertsechs vorstellen. Der träge Neckar fließt unterm Fenster dahin. Es ist ziemlich still, und wenn wo der Lärm kommt, dann sind's die trunkenen Studenten des Stifts, welche sich ihrer nationalen Bestimmung entgegengrölen, oder flüsternde Liebende in der Aulandschaft, das plötzliche Schlagen der Nachtigallen oder endlich das nächtliche Stampfen des nächtlichen Hölderlin, dem die "Fahnen im Frost klirren". Alles Ertönte und Vernommene hat hinterm Geräusch seine materielle Gestalt. Sämtliche Lärmverursacher haben Namen und Körper.

Das waren keine moderaten Zeiten, als die Einsamkeiten durch keinen Ton von außen noch tiefer in sich getrieben wurden.

Doch als der Dichter Günter Eich aus dem Krieg kam in seinem Gedicht, zurück zum Haus, der Heimstatt, war es so still in der Wohnung. Offenbar war da keiner - wann ist schon wer da nach einem Krieg -, und die Verlassenheit senkte sich wieder herab. Doch aus den Räumen hörte er eine männliche Stimme sprechen. Sie kam aus dem Radio.

Ich wachse neben dem Radio auf. Was dem Hölderlin die "Gäng und Wege der fürstlichen Natur", das ist mir Hilversum, Beromünster, Rotweißrot.

Wer ist der Täter??? Das Opernkonzert immer um eins. Ich eile aus der Schule, drehe sofort auf und habe schon versäumt, wie Mario del Monaco zu Renata Tebaldi auf Italienisch singt: Que gelida manina (Wie eiskalt ist dies Händchen).

Dafür sitze ich vor fünfzig Jahren im Wiener Stadionbad, und aus dem Lautsprecher höre ich die Stimme Heribert Meisels, der das Weltmeisterschaftsspiel Österreich gegen Schweiz beplaudert. Zwischen den Zuhältern, Bankangestellten, feschen Katzen, Buchhaltern sitz ich in der Wiese, und wir verfolgen das Match, sieben zu fünf für Österreich, wir sind wieder wer.

Zwei Jahre später nehmen sich meine Erwachsenen den Radio ins Bett - nein, das stimmt nicht: Sie schleppen die Matratzen zum Radio, verschwinden ganze Nächte mit den Ohren in ihm wegen des Aufstands in Ungarn. Meine Erwachsenen, gestriegelte Kommunisten, beginnen sich zu fürchten: Wir hören alle miteinander damals den Anfang vom Ende eines Traums.

Die Nachtigallen aber sind längst verstummt. Stattdessen kommt das Manderlradio, das Fernsehen in die Wohnungen. Zu den generierten Beschallungen kommen die virtuellen Persönlichkeiten und legen uns den ebenbildlichen Steinbruch vors Auge. Die Gespenster des persönlichen Albtraums kommen anderntags als unsere Zeit im Bild wieder.

Seitdem sind womöglich Radio und Nachtigall eine Interessengemeinschaft eingegangen. Auf diesem Sender jedenfalls kommt Renata Tebaldi immer wieder.