Audio-visuelles Projekt von Weiser, Conrad, Lillevän

Ein "Rechenzentrum" der anderen Art

Trotz des Namens hat diese Gruppe nichts mit Technik-Fetischismus zu tun: "Rechenzentrum" versteht sich vielmehr als Datenprozessor. In ständigem Transformationsprozess übersetzt sie Erlebnisse in audio-visuelle Information. Und weicht jeder Genre-Zuordnung aus.

Der Name "Rechenzentrum" deutet nicht, wie vorschnell angenommen werden könnte, auf einen besonders ausgeprägten Technik-Fetischismus hin, viel mehr verstehen sich die drei "Rechenzentrum"-Mitglieder selber als Datenprozessoren.

Erlebnisse, Erinnerungen werden in einem permanenten Transformationsprozess in audio-visuelle Information übersetzt. Dabei weichen "Rechenzentrum" mit geschicktem Zickzack-Kurs jeder Genre-Zuordnung aus. Sie spielen ganz bewusst überall, solange der menschliche Umgang stimmt - im Konzertsaal genauso wie im Technoclub oder Punkschuppen.

"Capitalism Surfing"

Jeder würde versuchen, sich in einem bestimmten Kontext zu positionieren, meint Marc Weiser, sie aber würden lieber ihren eigenen Kontext bilden. "Rechenzentrum" fühlt sich keinem Genre zugehörig.

"Wenn uns die Leute fragen: Wo wollt ihr eigentlich hin?", erzählt Lillevän, "dann antworten wir: Na weiter! Wir wollen noch mehr spielen, noch mehr reisen, noch mehr Kontext; überall rein und wieder raus - Capitalism surfing eben."

Gemeinsame Vergangenheit

Den drei "Rechenzentrum"-Mitgliedern gemeinsam ist nicht nur ein dezidiert vielseitiges Interesse und die permanente Lust zur Grenzüberschreitung und Eroberung neuer musikalischer und kultureller Territorien:

Es verbindet sie auch eine gemeinsame Vergangenheit in der bewegten Berliner Clubszene der frühen 90er Jahre, u.a. als Mitglieder des Drum- and Bass-Kollektivs "Elektronauten".

Erster Auftritt bei "documenta"

1997 wurde dann das Projekt "Rechenzentrum" ins Leben gerufen, im Anschluss an einen gemeinsamen Auftritt von Marc Weiser und Lillevän anlässlich der "dokumenta" in Kassel, bei der Weiser und Lillevän erstmals einen ganz neuen Weg einschlugen - nicht zuletzt als Reaktion auf die damals bereits inhaltlich weitgehend abgeflachte und kommerzialisierte deutsche Club-Kultur.

Er habe damals ganz viele verschiedene Platten, Kassetten, CDs und Radiokanäle ohne Kopfhörer, ohne Vorhören also, zusammengemischt, erzählt Marc Weiser. Und analog dazu bediente Lillevän den Videomixer ohne Vorschaumonitor, versteht sich.

Live-Film statt Kurzfilm

Von Anfang hatte er den Wunsch, Live-Film zu machen, erzählt Lillevän:

"Früher habe ich viele Kurzfilme gemacht. Wenn ich dann im Kino saß, um einen meiner Filme anzusehen, dachte ich oft: Jetzt würde ich gerne nochmals eingreifen und etwas verändern. Also habe ich mir ein Video-Mischpult gekauft und begonnen, zu den Auftritten der 'Elektronauten' live Video zu mischen. Mittlerweile verwende ich dafür einen Computer, der bietet auch mehr Möglichkeiten. Für mich ist 'Rechenzentrum' in erster Linie ein Live-Projekt."

Anschauungsmaterial auf CD und DVD

Eine anschauliche Vorstellung von der angesprochenen Live-Situation kann man sich auf der im Vorjahr auf "Mille Plateaux" erschienenen (und auch schon wieder ausverkauften) CD und DVD "Director´s Cut" machen.

Flüchtige Erinnerungen scheinen im musikalischen und visuellen Zusammenspiel von "Rechenzentrum" nach Zusammenhängen, nach einer Geschichte zu suchen, um kurz darauf hin im Sog der nächsten Erinnerung auch schon wieder im ewigen Strom der Gedanken und Eindrücke zu versinken.

Persönliche Geschichten

Die Titel ihrer Stücke, so Marc Weiser, erzählen alle ihre ganz persönliche Geschichte. Eine Geschichte, die für den nicht eingeweihten Zuhörer bzw. Zuseher nicht nachvollziehbar ist.

"Die Titel funktionieren gewissermaßen wie Tagebuch-Eintragungen oder wie eine Landkarte. Im besten Fall lösen sie beim Publikum während dem Live-Konzert eine Assoziation aus."

Vielseitiges Engagement

Marc Weiser und Lillevän sind neben ihrer Tätigkeit bei "Rechenzentrum" auch noch beide in zahlreiche andere Projekte involviert. Lillevän arbeitet u. a. auch mit Tarwater, Zeitblom oder Zbigniew Karkowski zusammen.

Marc Weiser ist u.a. Mitglied des "Zeitkratzer-Ensembles". Mitunter betritt er auch als Marc Markovic die Bühne, ein Projekt mit dem Weiser an seine Singer/Songwriter-Vergangenheit anknüpft - und sich damit einmal mehr zwischen alle Stühle setzt.

Spiel mit Erwatungshaltungen

Und Weiser erläutert zu diesem Projekt: "Es ist eigentlich ein Spiel mit Erwartungshaltungen an Künstler-Identitäten. Meist merken die Leute auch gar nicht, dass ich in gar keiner existierenden Sprache singe. Sie denken etwa: Das klingt ein bisschen wie Bob Dylan auf portugiesisch. Tatsächlich aber ist alles total improvisiert und spontan."

Festival-Kurator und Label-Betreiber

Marc Weiser ist aber nicht nur Musikproduzent, sondern auch Musik-Kurator, allem voran für den "Club Transmediale", der dieses Jahr zum insgesamt fünften Mal im Jänner zeitgleich zum Medienkunst-Festival "Transmediale" in Berlin stattfand.

Darüber hinaus ist er auch noch Label-Mitbetreiber. "Data Error", so der Label-Name, wurde ursprünglich gegründet, um das Projekt "Einzelteile" zu realisieren.

Neues Sound-Territorium für Musiker-Kollegen

Auf den beiden bisher erschienen LPs finden sich u. a. Beiträge von Mathias Schaffhäuser, Hakan Lidbo, Frank Bretschneider und Kid 606.

Ganz besonders gefreut hätte es sie, so Marc Weiser, dass viele der geladenen Musiker das Projekt "Einzelteile" zum Anlass genommen haben, um ein für sie bislang weitgehend unerforschtes Sound-Territorium zu betreten.