Ausgrenzung, Armut, Aufstand

Die Hundeesser von Svinia

Der Weg nach Svinia ist weit und vermutlich wird fast niemand, der Karl-Markus Gauß' Buch liest, je einen Fuß auf Svinias Boden setzen. Das hat nichts mit der Entfernung zu tun. Der Weg nach Svinia ist deshalb so weit, weil er in einem Zeitloch verschwindet.

Die Zeit von Svinia, zitiert Karl-Markus Gauß den Ethnologen Sasa Musinka, war irgendwann stehen geblieben...

... und als der Ort in den neunziger Jahren wieder entdeckt wurde, stellten die ersten Besucher erstaunt fest, dass die Roma nicht nur in einer anderen Zeit zu leben schienen, sondern gewissermaßen jenseits von ihr, ja dass sie keinerlei Zeitempfinden, das dem unseren ähnlich war, hatten. Was vorgestern und was voriges Jahr geschehen war, das schien ihnen nahezu gleich weit entfernt zu sein.

Unsichtbar für den Rest der Welt

Dieser scheinbar mythische Ort gehört allerdings zu den traurigsten Realitäten auf europäischem Boden. In wenigen Wochen werden die Roma von Svinia in der Ostslowakei Bürger der Europäischen Union sein. 657 Menschen in einem verdreckten Slum, 100 Prozent Arbeitslosigkeit, am Leben erhalten durch internationale Hilfsorganisationen, existent nur für jene, die davon wissen, unsichtbar für den Rest der Welt.

Der Slum bleibt unsichtbar, auch wenn man jeden Tag an ihm vorbei fährt. Der Slum ist von einer unsichtbaren Mauer umgeben, und diese Mauer trennt Welten voneinander. Hinter der Mauer leben andere Menschen, die von manchen, die sich sonst zivilisiert zu gebärden wissen, unverhohlen gar nicht für richtige Menschen gehalten werden.

Orte ohne Gesicht

Svinia ist einer der Orte, die für die slowakische Öffentlichkeit nicht existieren. Dementsprechend verfährt auch die Politik mit den Bewohnern. Die Roma sind organisiert und verfügen über eigene Medien, eine nennenswerte politische Lobby haben sie nicht.

Im Osten der Slowakei gibt es viele solche Orte mit bis zu 6000 in Armut lebenden Einwohnern. Aber nicht alle Roma-Siedlungen sind wirklich unsichtbar, sie werden bloß für unsichtbar erklärt.

Alptraum Verelendung

Karl-Markus Gauß hat die unsichtbaren Orte der Roma in der Slowakei in den vergangenen Jahren mehrfach besucht. Was er da gesehen hat, war jedes Mal dasselbe: Während die Slowakei sich europatauglich einzurichten trachtete, blieben die Ghettos veränderungsresistente Blasen, darin eingeschlossen der Alptraum von der völligen Verelendung im zusammenwachsenden Europa.

Gauß erzählt in seinem schmalen Text aber nicht über die Roma in der Slowakei. Er erzählt über sein Eindringen in einen gesellschaftlichen Tabubezirk. Mit der Bedächtigkeit des Spaziergängers nähert er sich den Siedlungen, er weiß nicht, was ihn erwartet, er weiß überhaupt recht wenig über die Zustände in diesen Siedlungen. Er weiß nur das, was ihm die eine oder andere Gewährsperson sagen konnte.

So ist es.

Gauß fängt gar nicht erst an, moralisch zu argumentieren. Er hält fest, nicht selten unter Zuhilfenahme poetischer Bilder. Er verheimlicht auch nicht seine Gespaltenheit. Inwieweit, fragt er, sind die Roma mitverantwortlich an ihrem gegenwärtigen Elend? Inwieweit ist das Ghetto die logische Konsequenz einer verweigerten Integration? Denn Integration hätte die Aufgabe der traditionellen Lebensweise bedeutet. Nun sind sie weder integriert, noch leben sie ihre Traditionen aus, weil sich die Gesellschaft rund um sie verändert hat.

So ist es. Mehr kann auch Karl-Markus Gauß nicht konstatieren. Nicht: So sollte es sein, oder: In diese Richtung könnte es gehen. Ratlos schaut der Europäer auf seine Ränder und hält umso mehr nach der Mitte Ausschau.

Buch-Tipp
Karl-Markus Gauß, Die Hundeesser von Svinia, Zsolnay Verlag 2004, ISBN 3552052925