Über Menschwerdung und Erlösung

Mit dem Göttlichen eins werden

Von Anbeginn der Menschheitsgeschichte ist das Streben und Erkennen des Menschen von einer unstillbaren Sehnsucht gekennzeichnet. Die christliche Tradition des Orients nennt diese Sehnsucht "Theosis - Mit dem Göttlichen eins werden".

Henri Boulad zur Auferstehung Christi

Theosis ist ein griechisches Wort, das reich an Bedeutung ist. Es war ein Begriff, der von den ersten Mönchen, den Wüstenvätern über Jahrhunderte hin benutzt wurde. Theosis wird übersetzt mit "Deifikation" oder "mit dem Göttlichen eins werden". Es geht vom Paradox des christlichen Glaubens aus, das sich darin begründet: "Gott wird Mensch, damit der Mensch Gott werden kann". Der vereinzelte, einsame, scheinbar nur auf sich gestellte Mensch soll Gemeinschaft haben mit dem Urgrund, aus dem er kommt, von dem er unsichtbar getragen wird und in den er am Ende seines Lebens geht.

Der Mystiker Henri Boulad

Bei einem viel beachteten Vortrag im RadioKulturhaus in Wien befasste sich der ägyptische Philosoph und Mystiker Henri Boulad mit dem Begriff Theosis aus orientalischer Sicht. Boulad, 1931 in Alexandria geboren, gilt als einer der seltenen Universalgelehrten der Gegenwart. Er hat in Frankreich und in den USA Theologie, Philosophie und Psychologie studiert und war lange Jahre Präsident der Caritas in Ägypten. Seine mittlerweile 14 Bücher sind in dutzende Sprachen übersetzt worden und haben seinen Ruf als herausragenden spirituellen Lehrer gefestigt.

Das Dogma Erbschuld

Nach Meinung des ägyptischen Jesuiten spiegelt sich in dem jahrhundertelang gelehrten Dogma der Erbschuld, in dem die Erlösung als Begleichung einer Schuld angesehen wird, eine Mentalität von Kaufleuten wider:

"Seit unserer Kindheit hören wir: 'Die Erbsünde sei zu Beginn der Menschheit begangen worden und stünde seitdem immer am Grunddatum der menschlichen Zeit. Weil die Erbsünde Adams Gott-Vater so verärgert hatte, hätte Jesus Christus die Rechnung als Kompensation dafür zu bezahlen, weil nur er allein es begleichen konnte. Gott habe Jesus deshalb auf die Welt geschickt, damit dieser durch sein Blut die Welt erlöse.' Diese Auffassung zeichnet ein Bild Gottes, der neidisch ist, der zornig ist, der sich rächen will und etwas einfordert, dessen Stolz und Ehre gekränkt ist, ein Gott der erst befriedet werden kann, wenn man ihm opfert, und dieses Opfer ist ein blutiges Opfer.“

Inkarnation eine Folge der Liebe Gottes

Provokant stellt Henri Boulad die Frage:

"Wenn es keine Erbsünde gegeben hätte, wäre Christus dann überhaupt auf die Welt gekommen, wäre Gott Fleisch geworden? - Darauf antworten zwei unterschiedliche Theologien: Auf der einen Seite die des Thomas von Aquin und auf der anderen Seite die von Duns Scotus. Und: Die Ansicht ist die, dass die Inkarnation keineswegs mit der Erbschuld in Verbindung steht. Sondern die Inkarnation ist eine Folge der Liebe Gottes, eines Gottes der Liebe, der sein Leben mit dem Menschen teilen will und ihn in die Göttlichkeit führen will. Das meint dieser Begriff Theosis - Vergöttlichung!"

Aber warum musste Christus dann sterben? War seine Gegenwart in der Gestalt des Jesus von Nazareth nicht ausreichend?

Boulad's Vergleich mit dem Weizenkorn

"Ich versuche einen Vergleich zur Erklärung, den auch Jesus benutzt hat. Am Abend vor seinem Tod spricht er davon: Wenn ein Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, dann bleibt es allein, ein Weizenkorn. Stirbt es aber, dann wird es reiche Frucht hervorbringen. Das Weizenkorn birgt in sich ein neues Leben, aber nur unter der Voraussetzung, dass es auf sein eigenes Leben verzichtet, seine Existenz sprengt, stirbt und verwandelt wird. So bringt es viele neue Getreidekörner hervor. Die Inkarnation ist dann so wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt, dort stirbt und sich verliert, seine Grenzen und Umrisse verliert, damit es sich mit allem, was es umgibt, verbinden kann und seinen Reichtum abgeben kann.

Der Tod Christi war notwendig, damit sich dieser Schatz auf die ganze Menschheit ausdehnt und zum gemeinsamen Gut aller werden kann. Der Tod Christi war die Voraussetzung dafür, dass die Göttlichkeit nicht nur auf sein Fleisch beschränkt blieb, sondern sich auf den mystischen Leib übertrug, auf die Menschheit, der wir alle angehören, die göttlich ist."

Die Vergöttlichung der Welt

Diese Idee der Vergöttlichung der Welt ist so alt wie die menschliche Kultur. Schon in den babylonischen Schöpfungsmythen ist nachzulesen, dass der Mensch aus dem Blut Gottes hervorgegangen ist. Gott opfert sich auf und überträgt sein Blut auf den Menschen und so wird der Mensch ein Teil von ihm. Neben Mesopotamien findet man diese Vorstellung auch im alten Ägypten. Auch die späteren Formen des Animismus sind überzeugt davon, dass der Mensch von gleicher Natur ist wie Gott.

Ähnliche Vorstellungen einer gleichen Natur von Gott und Mensch finden sich auch in der Stoa, die das Christentum mitbeeinflusste. Aber die Stoiker gehen noch einen Schritt weiter und fügen eine moralische Komponente hinzu. Nach ihrer Vorstellung ist Göttlichkeit etwas, was man nicht nur passiv aufnehmen kann, sondern sich erst aneignen muss. Das ist auch im Satz des griechischen Philosophen Pindar zu finden: "Werde, was du bist". Du bist göttlich und dazu aufgerufen, also werde es! - Hier ist nicht von einer Realität die Rede, sondern eher von einem Wunsch, von einer Sehnsucht und Hoffnung, das zu werden, wozu man aufgerufen ist.

Göttlichkeit ist Angebot

Henri Boulad hebt hervor, dass das Christentum diese Göttlichkeit im Menschen nicht als geschuldetes Recht sieht, sondern als ein freies Geschenk Gottes, als Gnade:

"Die Göttlichkeit ist nicht etwas, was automatisch vor sich geht, oder etwas das uns aufgezwungen wäre. Sondern es ist ein Angebot, das wir annehmen können. Es bedarf unserer Zustimmung. Gott ist mir geschenkt, aber ich muss ihn erst akzeptieren. Er bietet sich an, aber ich muss ihn erst aufnehmen. Die Beteiligung des Menschen an diesem Angebot ist entscheidend. Die Göttlichkeit in uns muss erst aufgebaut und verwirklicht werden. Das zeigt sich in der Sehnsucht des Menschen nach Gott, in der Suche, in der Erwartung, die erst dann Gott in mir hervorbringt."

"Ihr seid Götter!"

"Auch in der Bibel steht bereits im ersten Kapitel geschrieben: "Machen wir den Menschen nach unserem Ebenbild!" - Und im folgenden haucht Gott dem aus Lehm geformten Menschen seinen Lebensatem ein. Die Göttlichkeit Gottes wird so auf den Menschen übertragen, aber nur auf Mann und Frau und nicht auf die anderen Geschöpfe der Natur. Es ist also ein gewaltiger, ontologischer Graben zwischen der Pflanzen- und Tierwelt auf der einen und den Menschen auf der anderen Seite. Diese Idee des Menschen als Ebenbild Gottes finden wir in der Genesis, in den Psalmen, im Buch der Weisheit, im gesamten Alten Testament und im Koran. Aber der Höhepunkt ist dann Christus im Neuen Testament:

Als Christus sich als Sohn Gottes bezeichnet, bezichtigen ihn die Schriftgelehrten der Blasphemie. Jesus aber verweist auf einen Psalmtext, wo es heißt "Ihr seid Götter!" Und die Schrift kann nicht aufgehoben werden, sagt er zu ihnen. Wenn also in der Bibel der Mensch als göttlich bezeichnet wird, dann kann das doch keine Gotteslästerung sein. Christus hat immer wieder auf diesen göttlichen Charakter des Menschen hingewiesen.“

"Der vollkommene Mensch"

Im Islam gibt es auch die Idee eines Gottmenschen mit dem Ausdruck "Al khamil", "der vollkommene Mensch", diese Vergöttlichung des Menschen, die darin gipfelt, dass sich Christus als der Sohn Gottes bezeichnet. Er ist gleichzeitig Gottes Sohn und Menschensohn und diese beiden Dinge sind untrennbar miteinander verbunden.

Das Christentum hält an dieser Doppelnatur fest: Jesus Christus ist Menschensohn und ist Gottessohn. Wenn Jesus nur ein Menschensohn wäre, wäre er nichts anderes als wir, einer von uns, und nichts hätte sich in der Menschheitsgeschichte geändert. Wäre er aber nur Gottessohn, wäre das gewiss großartig und außergewöhnlich, aber es hätte letztlich mit uns nichts zu tun. Diese beiden Naturen sind notwendig, einerseits die Verbindung mit uns, andererseits die Göttlichkeit, die einen Wandel in der Geschichte bewirkt. Darin besteht die Erlösung. Es geht um den Übergang vom Menschsein zum Übermenschsein, den Übergang von der Humanität zur Göttlichkeit als letzter Berufung des Menschen.

Die eigentliche Frohbotschaft

Während im Westen vielmehr die Passion, das Kreuz und der Tod im Vordergrund steht, ist die orientalische Spiritualität ganz von der Idee der Auferstehung durchdrungen. Boulad dazu:

"Bei uns im Orient gibt es auch Kreuze in den Kirchen, aber Christus steht als der Auferstandene im Mittelpunkt, und sein Höhepunkt ist Christus der Pantokrator. So ist auch im Orient das Osterfest, das Fest des Triumpfes und das eigentlich wichtige. Dort singen die Menschen voller Inbrunst von Menschwerdung, Auferstehung und Vergöttlichung.

Die Auferstehung Christi wird unsere eigene Auferstehung, und sein Leben wird von nun an mein, unser Leben. Jesus sagt das auch deutlich im Evangelium: 'Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben'. Er hat nicht gesagt: 'Ich bin gekommen, um die Erbschuld zu tilgen'. Menschwerdung, Inkarnation ist nicht etwas Negatives, sondern etwas Positives. Es geht darum, die Menschen zu verwandeln und sie neu zu erschaffen.

'Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden kann!' Diese Theosis im Herzen der christlichen Glaubensbotschaft, sie ist die eigentliche Frohbotschaft."

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Henri Boulad - Mystiker und Jesuit