Ein kurzes Leben, das lange nachwirkt
Am Beispiel meines Bruders
Ein Tagebuch und ein paar Briefe - das ist alles, was von Karl-Heinz Timm geblieben ist. Dürftiges Material für Uwe Timm, den jüngeren Bruder, der in seinem neuen Buch das Trauma einer ganzen Generation aufarbeitet, unter dem nicht nur seine Familie zu leiden hatte.
8. April 2017, 21:58
Im Jahr 1943 starb Karl-Heinz Timm, Uwe Timms älterer Bruder, mit 19 Jahren in einem Lazarett in der Ukraine an einer Kriegsverletzung. Eine scheinbar einfache Geschichte, die sich im Zweiten Weltkrieg hundertfach wiederholt hat - und ein komplexes Drama innerhalb Uwe Timms Familie.
Gerade der frühe Tod des Bruders machte ihn unsterblich, verlieh ihm in den Augen der Eltern eine fast mystisch-überhöhte Aura. Dieser Aura spürt Uwe Timm in seinem neuen Buch nach, versucht zu ergründen, wer der Bruder tatsächlich war und was sein früher Tod für die Familie bedeutet hat.
Eben die Abwesenheit des Bruders bewahrte dessen bewundernden Blick auf ihn, den Vater, und damit auch das Bild, das er einmal von sich selbst gehabt hatte. Es war nicht nur der Vater gescheitert, sondern mit ihm das kollektive Wertesystem. Und er selbst war, wie die vielen anderen - wie fast alle, bis auf die wenigen, die Widerstand geleistet hatten - an der Zerstörung dieser Werte beteiligt gewesen. Die Reaktion darauf waren Trotz oder Verdrängung.
Ein knappes Tagebuch
Ein Tagebuch und ein paar Briefe - dürftiges Material für Uwe Timm, zumal gerade das Tagebuch seltsam emotionslos und knapp verfasst ist. Karl-Heinz Timm notierte darin Einsätze, Transporte, hin und wieder den Verlauf einer Kampfhandlung, all das in einem reduzierten Stil, der keine Rückschlüsse auf die emotionalen Befindlichkeiten des Schreibers zulässt.
14. März: Flieger. Iwans greifen an. Mein überschweres Beute-Fahr-MG schießt wie toll, ich kann die Spritze kaum halten, paar Treffer.
15. März: Wir gehen auf Charkow vor, kleine Reste der Russen.
16. März: In Charkow.
17. März: Ruhiger Tag.
Erschütternder Eintrag
Und dann, am 21. März, jener Eintrag, der Uwe Timm immer wieder dazu veranlasste, nicht weiterzulesen, sondern das Heft wegzuschließen.
Donez. Brückenkopf über die Donez. 75 Meter raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.
Uwe Timm war entsetzt: "Das ist ein fürchterlicher Satz, nicht? Und das ist eben die Frage: Wie kommt so etwas zu Stande, dass es an Empathie fehlt, an Mitleid fehlt, an Empfindung fehlt, wenn man in so einer Situation ist?"
Die Befindlichkeit einer ganzen Generation
Nicht umsonst lautet der Titel des Buches "Am Beispiel meines Bruders". Denn so persönlich Uwe Timms Bericht auch sein mag, er repräsentiert die Befindlichkeit einer ganzen Generation, arbeitet ein Trauma auf, unter dem nicht nur seine Familie zu leiden hatte. Exemplarisch sind auch deren Reaktionen, die Verklärung des Toten, der zu einem konturlosen, aber ständig anwesenden Phantom in Uwe Timms Jugend wurde:
"Er war ja nicht da, und trotzdem war er permanent da. Das ist ja gerade das Problem bei Familienmitgliedern, die gestorben sind, die aber dennoch eine große Ausstrahlungskraft haben, also in dem Fall immer das heroische Beispiel des Jungen, der eben tapfer war, immer brav war, immer ordentlich war, nie gelogen hat und dergleichen mehr. Und da ist schon die Frage, wohin hat diese Bravheit geführt?"
Ein braver Junge
Karl-Heinz Timm führte sie zur SS-Totenkopfdivision, wohin er sich freiwillig gemeldet hatte, auf die Schlachtfelder der Ukraine und schließlich in einen frühen Tod. Aber sogar nach seiner Verwundung blieb er in seinen Briefen der brave Junge, der die Mutter beruhigte und dem Vater pflichtgemäß berichtete.
Uwe Timm spürt den Gründen für dieses Verhalten nach, dem Alltäglichen, aus dem der Holocaust und der Zweite Weltkrieg gekommen sind.
Annäherung an die Vergangenheit
Umfassende Antworten hat Uwe Timm freilich nicht gefunden, konnte sie wohl auch nicht finden. Und so stellt sein Büchlein auch nur den Versuch einer Erklärung dar, eine Annäherung an die Vergangenheit. Timm klagt nicht an und beschuldigt nicht, er ist Chronist, nicht Richter, ein Chronist, der mit diesem für ihn selbst so wichtigen Bericht auch sein eigenes Leben auf den Prüfstand stellt:
"Es ist eine Form der Selbsttherapie insofern gewesen, dass ich über mich sehr viel erfahren habe und über bestimmte Verhaltensformen, die ich immer noch habe."
Verändertes Bild
Er hätte den Bruder gern richtig kennen gelernt, sagt Uwe Timm heute, würde gerne wissen, wohin sich dieser Junge entwickelt hätte. Tatsächlich hat Timm sich in seiner Arbeit seinem Bruder so weit angenähert, wie es möglich war, hat das fest umrissene Bild seiner Kindheit aufgelöst und ihm neue Komplexität verliehen.
Trotzdem: Karl-Heinz Timm, der brave Soldat, der für ein unmenschliches Regime gefallen ist, entzieht sich einer Beurteilung, sein Charakter, seine Emotionen bleiben schemenhaft. Einzig sein letzter Tagebucheintrag fällt aus dem Rahmen, vermittelt einen Eindruck davon, dass auch er von den Kriegsgräueln nicht ganz unberührt geblieben war:
Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.
Eine plötzliche Einsicht kurz vor dem Tod? Auch diese Frage bleibt unbeantwortet.
Psychogramm einer Generation
Uwe Timms literarischer Kunstfertigkeit ist es zu verdanken, dass gerade dieses persönliche Werk ein eindringliches Bild der damaligen Zeit vermittelt, dass es mehr ist als nur die psychologische Selbstsuche eines Autors. Seine Spurensuche in der eigenen Familie wird zum Psychogramm einer Generation, das den Leser betroffen und nachdenklich zurücklässt.
Buch-Tipp
Uwe Timm, "Am Beispiel meines Bruders", Verlag Kiepenheuer & Witsch 2003, ISBN 3462033204.