Vom jüdischen Flüchtlingsjungen zum Chefdolmetscher beim Nürnberger Prozess

Mehr als ein Leben

Der ehemalige Chefdolmetscher der Nürnberger Prozesse und spätere IT-Manager Richard W. Sonnenfeldt blickt auf ein geglücktes Emigranten-Leben zurück. Seine Autobiografie erzählt nicht die Geschichte eines Opfers, ganz im Gegenteil.

Dieses Buch wäre nie geschrieben worden, wenn nicht meine Enkel vor 10 Jahren in der Schule über amerikanische Einwanderer hätten berichten müssen. Sie fragten mich nach meiner Vergangenheit, und nachdem ich mit ihnen geredet hatte, wollten ihre Eltern und sogar ihre Großmutter, dass ich meine Lebenserinnerungen für die Familie niederschreibe.

Als "Mann, der Göring verhörte" kennt man Richard Sonnenfeldt heute. Als Sonnenfeldt 1941 Amerika betrat, war er noch fast ein Kind und hatte bereits eine mehrjährige Reise hinter sich. Nicht immer ganz freiwillig: Seine Eltern schickten den 15-Jährigen wegen des wachsenden Antisemitismus in Deutschland auf eine englische Schule. Von dort wurde Sonnenfeldt nach Australien deportiert. Von den Australiern schließlich doch freigelassen, schlug sich der Halbwüchsige auf eigene Faust weiter durch. Kuba und Bombay waren nur zwei der abenteuerlichen Stationen, bevor Sonnenfeldt an Bord eines Luxusdampfers in die Vereinigten Staaten gelangte. Da war er gerade 17:

Kurz vor Sonnenaufgang, am letzten Morgen auf See, wusste ich eines mit absoluter Gewissheit: Ich wollte nicht wieder als Schuljunge bei meinen Eltern leben!

Durch Unglück gewachsen

Dieses Buch erzählt NICHT die Geschichte eines Opfers der historischen Ereignisse. Im Gegenteil: Unglücke und Kalamitäten ließen Richard Sonnenfeldts Talente erst richtig erblühen: Kreativität, Wendigkeit, Instinktsicherheit - und Sprachbegabung!

Letztere trug dem in Sachsen-Anhalt geborenen Amerikaner, der 1945 als GI nach Deutschland zurückkehrte, schließlich einen Job ein, der ihn berühmt machen sollte. Mit erst 23 Jahren wurde Richard W. Sonnenfeldt Chef-Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen:

Im Gegensatz zu Hitler, Goebbels, und Himmler, die Selbstmord begangen hatten, lebte Göring. Und er war unser Gefangener. Göring war der Chef-Angeklagte, Amen war der Chef-Vernehmer, und ich war der Chef-Dolmetscher. Alles in schönster deutscher Ordnung!

Anekdötchen und Alltagsgeschichtchen

Der durchgehend leicht ironische, scheinbar gänzlich unbeschwerte Stil des Autors ist das, was an dieser Autobiografie am meisten auffällt. Neben den Ereignissen rund um Flucht, Deportation und Irrfahrten aller Art, strotzt das beinahe 80 Lebensjahre umspannende Buch nur so von Alltagsgeschichtchen , die der Autor "ulkig" oder "komisch" nennt: Anekdötchen rund um Katzen und Hunde, Verwandte und Gäste, Dinner-Einladungen und Urlaubsreisen. Nur ganz selten klingt so etwas wie Melancholie an:

Warum hatte ich so viel Glück? Warum war ich eine von sechs Personen unter dreitausend, die aus dem Internierungslager in Australien entlassen worden waren? Und warum hatte ich als Einziger in Bombay ein amerikanisches Visum bekommen?

Glück, Klugheit und Fleiß

Die Antwort auf diese Frage gibt das Buch: Es war nicht nur das Glück, das diesem selbstbewussten Schalk immer wieder das Leben rettete. Und es war nicht nur das Schicksal, das ihn nach dramatischen Erlebnissen immer wieder dorthin steuerte, wo es genug zu essen, Ruhm und Anerkennung gab, sondern auch die eigene Klugheit. Und ein bienenartiger Arbeitsfleiß:

Am 14. Juni 1949 trat ich bei der Radio Corporation of America meine erste Stelle nach dem Examen an. Ich konnte es kaum erwarten, mich an die Arbeit zu machen. Trotz der schäbigen Umgebung war das hier ein echtes Umternehmen, in dem unter anderem Radio- Und Fernsehempfänger erfunden und gebaut wurden.

Manager in der Elektronik-Industrie

Der Mann, der als einziger jüdischer Mensch nach der Verhaftung von Hitlers Führungsmannschaft ausführlich mit Nazi-Größen wie Göring oder Höß gesprochen hat, war später maßgeblich an der Erfindung des Farbfernsehens und der Videodisk beteiligt.

Er arbeitete an der Konstruktion der urtümlichen Pionier-Computer mit, die von der NASA zur Steuerung der Startphase der Apollo-Raketen benutzt wurden. Schließlich wechselte Sonnenfeldt ins gehobene Management der rasant aufsteigenden Elektronik-Industrie.

All das beschreibt der deutschstämmige ehemalige GI aus dem kleinen Ort Gardelegen mit der gleichen sachlichen Distanz zum eigenen Leben, mit der er auch die Ereignisse und Situationen während der Nürnberger Prozesse schildert:

Drastisch und heiter zugleich

"Mehr als ein Leben" wurde von Richard Sonnenfeldt in seiner neuen Heimatsprache Amerikanisch entworfen und später ins Deutsche übersetzt. Teile daraus basieren auf Interviews für ein Dokumentationsvideo, das Richard Sonnenfeldts Sohn Michael über seinen Vater drehte.

Die große Kinoverfilmung dieser authentischen und berührenden Lebensgeschichte dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Einstweilen gibt es aber für alle, die sich für die abenteuerliche Lebensgeschichte des Deutschen Heinz Wolfgang Richard Sonnenfeldt interessieren, diese spannend geschriebene Autobiografie.

Das Buch liest sich so drastisch lebensnah und zugleich abgeklärt heiter, als hätte es Sonnenfeldt nicht auf seinem häuslichen PC getippt , sondern live an vielen sonnigen Großvater-Nachmittagen seinen 15 amerikanischen Enkeln erzählt.

Buch-Tipp
Richard W. Sonnenfeldt: "Mehr als ein Leben", übersetzt von Theda Krohm-Linke, Scherz-Verlag 2003, ISBN 3502186804.