Aufklärung durch Pressefotografie
Das Leiden anderer betrachten
Stand in Susan Sontags Essaysammlung "Über Fotografie" (1977) das manipulative Potenzial der Fotografie im Vordergrund, so betont sie heute die aufklärerischen Möglichkeiten vor allem der Pressefotografie. Trotzdem ist sie weit davon entfernt, unkritisch zu sein.
8. April 2017, 21:58
Die "persönliche Urszene"
In ihrer berühmten Essaysammlung "Über Fotografie" aus dem Jahr 1977 beschreibt Susan Sontag eine "persönliche Urszene". Im Juli 1945 stößt sie in einer Buchhandlung in Santa Monica zufällig auf Fotografien aus den befreiten Konzentrationslagern von Dachau und Bergen-Belsen. Susan Sontag, damals zwölf Jahre alt, ist zutiefst schockiert.
Nichts, was ich jemals gesehen habe - ob auf Fotos oder in der Realität - hat mich so jäh, so tief, so unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah - und in die Zeit danach.
"Das Leiden anderer betrachten" ist die Fortsetzung der berühmten Sontagschen Fotografie-Essays aus den 70er Jahren. Dabei nimmt die New Yorker Autorin eine bemerkenswerte Akzentverschiebung vor. Stand in den Untersuchungen der 70er Jahre das manipulative Potenzial der Fotografie im Vordergrund, der inflationäre und notwendig abstumpfende Gebrauch, den die moderne Massenmedien von Bildern und Fotos machen, betont sie heute die aufklärerischen Möglichkeiten vor allem der Pressefotografie. Ein Beispiel: "Kriege, von denen es keine Fotos gibt, werden vergessen", schreibt sie.
Blut zieht immer
Trotzdem, Susan Sontag ist weit davon entfernt, die Möglichkeiten des Mediums unkritisch zu bewerten. Die Drastik der modernen Kriegs- und Katastrophenfotografie hat in ihren Augen durchaus problematische Seiten. Bombenanschläge und Massaker aller Art sind heute ja fester Bestandteil des abendlichen Pantoffelkinos.
Zuschauer bei Katastrophen sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung... Kriege, das sind inzwischen auch Bilder und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen. "If it bleeds, it leads", lautet seit jeher die Faustregel der Massenpresse und der Nachrichtenkanäle: Blut zieht immer.
Voyeure des Grauens
Wir alle sind Voyeure des Grauens, darüber macht sich Sontag keine Illusionen. Aber welche Schlüsse zieht sie daraus? Schwer zu sagen: Eine klare, griffige These formuliert die US-amerikanische Essayistin in ihrem Buch nicht. Der 150-Seiten-Band bietet lockere und ziemlich unsystematische Betrachtungen zum Thema Fotografie, mal banal, mal brillant, mal erhellend, dann wieder altbekannt. Susan Sontag geht weit zurück in die Kunstgeschichte, zu Leonardo da Vinci, zu Francisco Goya und anderen Künstlern, die sich mit der Darstellung des Krieges beschäftigt haben - bis hin zu den Frontberichterstattern des Krimkriegs und des amerikanischen Bürgerkriegs.
Ein Schlachtengemälde müsse vor allem Entsetzen hervorrufen, forderte schon Leonardo da Vinci. Eine Forderung, der sich wohl auch kritische Kriegsberichterstatter unserer Tage anschließen würden. Aber Vorsicht: Es gibt auch so etwas wie eine Routine des Entsetzens - auch die aufrüttelndsten Fotoreportagen, auch die grausigsten Dokumentarszenen im Fernsehen verlieren nach der hundersten Wiederholung ihren Schock- und Appellcharakter.
Fotos, die einen nicht mehr los lassen
Bei den KZ-Fotos aus Dachau und Bergen-Belsen mag das anders sein: Sie vermögen auch heute noch zu bestürzen und zu schockieren, wie Susan Sontag einräumt. Trotzdem: Die US-amerikanische Autorin warnt davor, die Möglichkeiten des Mediums Fotografie zu überschätzen:
Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen, Fotos tun etwas anderes: Sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.
Jedem Foto seine Bildlegende
Auf keinen Fall dürfe man sich der Suggestiv- und Sogkraft solcher Fotos kritiklos überlassen, fordert Susan Sontag. Ohne solide Recherche, ohne die Kenntnis von Daten und Fakten und vor allem: ohne kritische Analyse bleibt der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt - oder fälscht. Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der serbischen und der kroatischen Propaganda die gleichen Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der Tod dieser Kinder so und anders nutzen.
Buch-Tipp
Susan Sontag: "Das Leiden anderer betrachten", aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hanser-Verlag, München, ISBN: 3446203966.
Link
Homepage Susan Sontag