Vier Erzählungen zu einem Thema

Mutter töten

Eigentlich beschreibt Jürg Amann nichts anderes, als dass jemand durch einen Tunnel fährt und, weil sich drüben nichts machen lässt, an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Aber so einfach ist es auch wieder nicht. Und ums Mutter-töten geht's auch nicht wirklich.

Es ist ein starker Beginn eines unglaublich starken Buches. Gleich im ersten Text seines neuen Erzählbandes "Mutter töten" beschreibt der Schweizer Autor Jürg Amann, wie er als Kind mit der Mutter ins Dorf von deren Vater gereist ist. Dass der Mann verstorben sein musste, wurde den beiden aus einer winzigen Veränderung heraus klar. Im Herbst 1956 kam jener Jutesack mit Kastanien nicht mehr bei ihnen an, der bis dahin noch ein jedes Jahr gekommen war. Daraufhin stellte man Nachforschungen an und erhielt umgehend die telefonische Bestätigung: "Il signor Galli è morto."

Der Gotthard-Tunnel als Verbindung und Trennung zugleich

Dieser Herr Galli, der Großvater des erzählenden Buben, ist auch wirklich ein schöner Herr gewesen: Einst hatte er am Bau des Gotthard-Tunnels mitgewirkt. In einer einsamen Nacht schwängerte er in einem Dorf gleich neben der Baustelle ein Mädchen. Er versprach, mit ihr leben zu wollen, sobald das Bauwerk fertig gestellt sei.

Als Abfindung dafür, dass sie ihn in seinem eigenen Heimatdorf unbehelligt ließen, sollte die Frau und die mit ihr gezeugte Tochter (eben jene Mutter, um die es bei Amann auch in den restlichen Erzählungen des Bandes geht) nach seinem Tod Haus, Hab und Gut bekommen.

Erbe oder nicht Erbe

Nachdem sie über das Ableben von Herrn Galli Gewissheit erhalten haben, machen sich also die Tochter und der Enkelsohn auf, um die Familie des Verstorbenen an das Erbversprechen zu erinnern.

Sehr gute Karten haben sie dabei nicht: Die Mutter, der der Mann sein Erbe mündlich zugesagt hat, ist bereits tot, die Tochter hält einzig einen Brief in der Hand, in dem sich Galli sehr allgemein zur Vaterschaft bekennt.

Literarische Kunstgriffe des Bachmann-Preisträgers

Die Erzählung "Die Reise", in der dieses hoffnungslose Unternehmen unter hoher emotionaler Beteiligung und dabei doch in einer höchst kunstvollen Weise geschildert wird, ist einer der dichtesten und präzisesten Texte, der jemals geschrieben wurde.

Jürg Amann, der Bachmann-Preisträger von 1982, der sich nach seiner Dissertation über Franz Kafka auch in seinen literarischen Arbeiten bislang der Wirklichkeit meist über Kunstfiguren (darunter auch Robert Walser) genähert hat, findet hier zu einer neuen Verfahrensweise. Die autobiografischen Anteile treten jetzt klar zu Tage und scheinen durch keinen literarischen Kunstgriff um ihre prinzipiellen Rechte gebracht. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist es ein beinahe schon in kafkascher Weise reduzierter Text, den der Autor vorlegt.

Eigentlich beschreibt "Die Reise" nichts anderes, als dass jemand durch einen Tunnel fährt und, nachdem sich herausgestellt hat, dass sich drüben absolut nichts mehr machen lässt, wenig später durch das gleiche Loch an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Was bleibt, ist die sichere Gewissheit, dass die Fahrt, auch wenn es für sie zu spät war, unternommen werden musste.

Eine Mutter-Sohn-Beziehung

Auch der Titel des Gesamtbandes, "Mutter töten", ist viel weniger spekulativ, als er sich zunächst anhört. In den insgesamt vier Erzählungen (darunter eine über die ungeheuer strengen Erziehungsmethoden der Mutter und daneben ein Requiem auf ihren Tod) geht es nicht darum, mit der Mutter rhetorisch fertig zu werden. In einer sehr kurzen Erzählung geht es um das wirkliche Mutter-töten, das heißt um den Wunsch nach Sterbehilfe, mit dem die Frau den Sohn konfrontiert.

Insgesamt zeichnet Amann ein höchst komplexes Bild. Es erscheint eine harte und zähe Frau, mit der man eben nicht abrechnen, sondern irgendwie abschließen muss. Jürg Amann hat dies in einer ungemein eindringlichen, aufrichtigen und liebevollen Weise getan. Man könnte es aber auch anders sagen: Mit "Mutter töten" kommt jetzt aus der Schweiz das beste Buch zu diesem Thema seit Peter Handkes "Wunschlosem Unglück".

Buch-Tipp
Jürg Amann, "Mutter töten", Haymon Verlag Innsbruck 2003, ISBN 3852184290