Wozu Bücher sonst noch gut sein können

Simplify Your Life

Wenn wir Büchermenschen immer wieder darüber jammern, dass das Buch in der Krise steckt, sollten wir uns überlegen, welche alternativen Nutzungsmöglichkeiten denkbar sind. Manchmal ist ja der materielle Wert höher einzuschätzen als der Inhalt.

Meine Kollegin R. benutzt Bücher, um Gegenstände darauf abzustellen. Ihren Computerbildschirm hat hat sie seit Jahren auf zwei Bänden eines chinesischen Nobelpreisträgers platziert. Jetzt kann sie ihren Kopf beim Schreiben gerade halten. Natürlich schreibt sie über Bücher, so wie ich, aber das hindert sie nicht daran, den materiellen Wert derselben manchmal mehr zu schätzen als den Inhalt.

So wie jene Dame im oberösterreichischen Scharnstein, die kürzlich einem bewaffneten Einbrecher ein Buch an den Kopf warf und ihn damit in die Flucht schlug. Ich nehme an, sie wird sich in der Bibliothek keinen bestimmten Titel dafür ausgesucht haben, um der Notwehr eine besondere Note von Stilsicherheit zu verleihen. Ausschlaggebend waren wohl Größe und Gewicht, wobei einem schon der Gedanke kommen kann, dass man im Falle des Unterliegens lieber mit der Shakespeare-Gesamtausgabe in der Hand aufgefunden werden möchte als mit Werner Tiki Küstenmachers "Simplify Your Life". Wenn das Buch tatsächlich eine Waffe im Kampf gegen die Sinnlosigkeit sein sollte, wie Viktor Frankl einmal behauptet hat, dann ist man mit Pastor Küstenmachers Werk gut beraten. "Entkrampfen Sie Ihre Beerdigung" heißt es darin in weiser Voraussicht, wohin die Lektüre führen kann: Machen Sie es sich und Ihrer Umwelt leicht - sterben Sie ohne viel Aufhebens. So hat wenigstens Ihr Tod einen Sinn.

Natürlich möchte man so nicht sterben, lächelnd und sinnerfüllt. Ich jedenfalls möchte nicht auf Werner Tiki Küstenmachers "sieben Wegen, das Nein beziehungsorientiert zu verkaufen", aus dem Diesseits trollen. Wenn schon, dann möchte ich wie ein Shakespearescher Held untergehen, ohne priesterlichen Segen, wenn es leicht geht. Ich möchte verlieren wie Rocky Balboa seinen Kampf gegen Apollo Creed verloren hat: als moralischer Sieger: "Noch bist du nicht besiegt, noch schwebt die purpurne Fahne der Schönheit auf deinen Lippen und Wangen, und die blasse Flagge des Todes ist hier noch nicht aufgezogen".

Die mutige Dame in Scharnstein hat jedenfalls Leib und Leben mittels eines Buches verteidigt, welcher Kritiker kann das von sich behaupten! Bücher retten üblicherweise keine Leben, aber immerhin: Sie ermöglichen ein Überleben. Da fällt mir ein: Werner Küstenmacher hat sich den Beinamen Tiki zugelegt, weil bei den Maori in Neuseeland der erste Mensch so hieß. Lange Zeit hat Werner Küstenmacher in den Spiegel geschaut und die Person, die ihm da entgegen blickte, gefragt: Gott, wer bin ich? Da du nicht dein Hund sein kannst, bist du der Herr des Hundes, antwortete Gott. Wenn ich der Herr des Hundes bin, bin ich ein Mensch, jubelte Werner Küstenmacher und nennt sich seither Tiki, wie der erste Mensch der Maori, um nie mehr an sich zu zweifeln. Und jetzt schreib ein Buch darüber, wie es ist, nicht sein eigener Hund zu sein, befahl Gott eines Tages...

Sie sehen: So entstehen Mythen.

Jedes Ding hat zwei Seiten, heißt es. Ein Buch hat gleich mehrere. Eine letzte ist auch immer dabei, und das ist nicht nur bei "Simplify Your Life" so.

Bücher, ich habe es schon angedeutet, werden ja nicht zuletzt deshalb gemacht, damit Menschen Arbeit haben. Ich zum Beispiel. Meine Arbeit hängt übrigens nicht davon ab, wie gut oder schlecht diese Bücher sind, genau genommen ist es vollkommen gleichgültig, was drin steht. Dem Kritiker kann jedes Buch Recht sein, eine Meinung kann man zu allem haben.

Freilich, ein Buch ist auch ein Kulturgut. Meistens jedenfalls. Ein Buch ist aber nicht zwangsläufig ein Kunstwerk. Ein literarischer Text ist ein Kunstwerk, ein Roman, eine Erzählung, ein Essay, ein Gedicht. Literatur ist keine Ware, ein Buch hingegen schon. Das ist fatal. Und am Ende ist ein Buch einfach nur ein Gegenstand, eine nicht einmal besonders schön anzuschauende Papierskulptur. Ein Kulturgut ohne Auftrag. Unverrückbare Wörter ohne Leser.

"O wie bin ich zermalmt", heißt es bei Klopstock. Aber wer liest denn noch Klopstock? Hat man den je gelesen? Eben.

Da hat es das Bild an der Wand besser. Selbst ein mittelmäßiges Stillleben (ich schließe die Augen und sehe das Wohnzimmer meiner Großeltern) zieht jedermanns Blicke auf sich: Mein Gott (schon wieder der!), ist das mittelmäßig, sagt man sich jedes Mal, wenn man den Raum betritt. Immer hofft man aber doch etwas Neues, zuvor noch nie Gesehenes zu entdecken. Seien es bloß ein raffinierter Pinselstrich oder der Farbauftrag an einer bestimmten Stelle: Ein Bild verändert sich mit dem Sehenden, der ja zu keiner Zeit derselbe ist.

Aber ein Buch ist ein Buch ist ein Buch, und wenn ich die "Buddenbrooks" aufschlage, dann beginnt es stets mit derselben überraschten Wendung der Konsulin: "Was ist das. - Was - ist das..."

An diesem Satz wird sich bis zur Apokalypse nichts verändern, auch wenn man an selbige nicht glauben mag. Die Welt prügeln wir schon selber windelweich, dazu braucht es keinen zornigen Gott. Und seit ich nach dem Anklicken von Werner Tiki Küstenmachers Homepage ("Lernen Sie die Geheimnisse kennen, Ihr Leben jetzt zu entkomplizieren") vor einem leeren Bildschirm saß, glaube ich auch nicht mehr an irgendeine Art der Erlösung.