Warum Alexander Litwinenko sterben musste
Tod eines Dissidenten
Alexander Litwinenko starb November 2006 in London durch das radioaktive Polonium 210. Putin wird keine der Verdächtigen ausliefern. Litwinenkos Witwe Marina und der Dissident Alex Goldfarb wollen mit ihrem Buch das Vergessen des Falles verhindern.
8. April 2017, 21:58
Warum traf es ausgerechnet Litwinenko, ein eher kleines Licht im russischen Geheimdienst FSB? Warum wählte der Mörder Polonium 210? Wusste Putin von diesem Mord? Alexander Litwinenko, genannt Sascha, starb an Organversagen nach der Verstrahlung durch die Substanz Polonium 210. Der Fall ist explosiv, denn der bei seinem Tod 46-jährige Ex-Geheimdienstoffizier war das erste Opfer eines nuklearen terroristischen Angriffs, der noch dazu beinahe nicht entdeckt worden wäre.
"Polonium hätte eigentlich das Zeug zur perfekten Mordwaffe", meint Alex Goldfarb, russischer Wissenschaftler und Dissident, "denn es war noch kein Fall vorher bekannt, in dem diese Substanz zum Töten von Menschen benutzt worden wäre. Niemand hat es erwartet, niemand hat danach gesucht. Und deshalb hat es auch so lange gedauert, bis man Polonium nachgewiesen hatte. Die britischen Ermittler haben es ja nur zufällig identifiziert, 23 Tage, nachdem Sascha es geschluckt hatte, wenige Stunden vor seinem Tod. Für die Mörder war das Kalkül, sie könnten davonkommen, also gar nicht so abwegig. Aber als die britischen Ermittler erst das Polonium als Todesursache ausgemacht hatten, konnten sie die Spuren des strahlenden Gifts mit absoluter Sicherheit nach Moskau zurückverfolgen."
Von offizieller Stelle befehligt
Polonium gilt als eine der giftigsten Substanzen der Welt. Schon ein winziges Körnchen - geschluckt oder eingeatmet - ist tödlich. Mit einem Gramm kann man eine halbe Million Menschen töten. Litwinenko hatte eine Dosis von mindestens drei Gigabecqerel erhalten, was ungefähr dem Hundertfachen einer tödlichen Dosis entspricht. 97 Prozent der offiziellen Poloniumproduktion wird in russischen Hochsicherheitslabors abgewickelt, das sind etwa 85 Gramm im Jahr. Der Polonium-Befund stelle einen eindeutigen Beweis dar, argumentieren Goldfarb und Litwinenko, kein Amateurkiller konnte dieses Attentat verübt haben.
"Der überraschende Aspekt an diesem Mord ist, dass dieser Mord-Anschlag von offiziellen Stellen in Russland befehligt wurde", meint Goldfarb, "von Russland, das von einigen demokratischen Regierungen als Alliierter angesehen wird. Insofern ist der Tod Alexander Litwinenkos auch ein Warnruf."
Das Buch "Der Tod eines Dissidenten" zeichnet nicht nur das Schicksal Alexander Litwinenkos nach, sondern es dokumentiert auch wichtige Ereignisse ab Mitte des letzten Jahrhunderts wie den Tschetschenienkrieg, Aufstieg und Flucht Boris Beresowskis, das Engagement von George Soros, die orange Revolution in der Ukraine, den Niedergang der Pressefreiheit unter Putin und seine zunehmende politische Abschottung. Der Begriff, der in diesem Buch am häufigsten im Zusammenhang mit Putin genannt wird, ist "Verschwörung".
Paranoides Verwirrspiel
Der des Mordes an Litwinenko verdächtige russische Geschäftsmann Andrej Lugovoi trat in Moskau mit der Anschuldigung an die Öffentlichkeit, der Verstorbene habe im Auftrag des britischen Geheimdienstes und Boris Beresowskis kompromittierendes Material über den russischen Präsidenten sammeln sollen. Der Kreml beschuldigte Beresowski unterdessen, durch die Ermordung Politkowskajas und Litwinenkos, die russische Regierung in Verruf bringen zu wollen. Goldfarb behält in diesem Verwirrspiel einen kühlen Kopf, so scheint es jedenfalls:
"Die Motive der Russen gehen klar aus ihren Äußerungen hervor. Sie sagten erst, Sascha wäre genau wie Anna Politkowskaja von Feinden Russlands getötet worden, mit dem Ziel, das Image der russischen Regierung zu beschädigen. Dass sie so ein Szenario überhaupt aufbauen, spiegelt die paranoiden Verstrickungen des Regimes wider."
Ein - leider wahrer - Thriller
Alex Goldfarb, begeisterter Leser der Spionageromane von John Le Carré, hat die Geschichte Litwinenkos wie einen Thriller aufbereitet. Da es hier aber um eine wahre Geschichte geht, fehlt der wohlige Grusel beim Lesen. Stattdessen packt einen das Entsetzen: Dass der Arm des russischen Geheimdienstes womöglich bis in die Hauptstädte westlicher Länder reicht, dass hier ohne Skrupel vor Kollateralschäden - auch diplomatischer Art - mit radioaktivem Material operiert wird, ist eine ausgesprochen beunruhigende Nachricht, die Marina Litwinenko und Alex Goldfarb für uns bereithalten.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Alex Goldfarb und Marina Litwinenko, "Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste", Aus dem Englischen übersetzt von Violeta Topalova, Verlag Hoffmann und Campe, 2007, ISBN 978-3455500455