Ein "cold case" neu aufgerollt

Tannöd

Ein wahres Verbrechen schildert die deutsche Autrorin Andrea Maria Schenkel in diesem Kriminalroman. Sprachlich raffiniert und authentisch erzählt der Roman vom Mord an sechs Menschen, der sich in den 1920er Jahren in Oberbayern ereignete.

Ein true crime, ein wahres Verbrechen, hat sich Andrea Maria Schenkel vorgenommen. Allerdings liegt der Fall schon mehr als 80 Jahre zurück: In der Nacht auf den 1. April 1922 wurden auf einem abgelegenen Bauernhof in Oberbayern sechs Menschen mit einer Spitzhacke erschlagen: der Bauer, die Bäuerin, die Tochter, deren Kinder und die Magd. Der Kriminalfall ist nie aufgeklärt worden und letztlich als ungeklärter Raubmord zu den Akten gelegt worden.

Bis heute nur Vermutungen

Spekulationen über das Massaker von Hinterkaifeck - so hieß der Einödhof - haben sich bis heute gehalten: von der Tat eines Wahnsinnigen über den Amoklauf eines enttäuschten Liebhabers bis hin zu einem Fememord im nationalsozialistischen Freikorpsmilieu.

Nachdem die Spekulation der Grundnahrungsstoff der Literatur im Allgemeinen und der Kriminalliteratur im Besonderen ist, ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass dieser "cold case" nun in Krimiform neu aufgerollt worden ist. Andrea Maria Schenkel heißt die deutsche Autorin, die mit "Tannöd" debütiert hat.

Ein "literaturbetriebliches Wunder“

Das wäre alles nicht weiter erwähnenswert, wenn die Geschichte dieses Debüts nicht auch den Charakter eines exemplarischen Falles hätte: Ursprünglich im Frühjahr 2006 mit einer Startauflage von 3.000 Stück in der literarisch rührigen aber ökonomisch marginalen Hamburger Edition Nautilus erschienen, blieb "Tannöd" - abgesehen von einer Top-Platzierung in der deutschen Krimi-Weltbestenliste - im Rahmen der Erwartungen.

Anfang 2007 ereignete sich dann eines der inzwischen selten gewordenen "literaturbetrieblichen Wunder", das sich aber aus dem Reich des Mirakels und der Spekulation mit ein wenig Recherche auf den Boden der Fakten und der Gesetzmäßigkeiten zurückführen lässt: Zuerst einmal ein Porträt der "schreibenden Hausfrau" Andrea Maria Schenkel im "Spiegel", dann der "Deutsche Krimi Preis 2007", eine Vorstellung des Buchs in Elke Heidenreichs TV-Show "Lesen", ein Auftritt der Autorin bei der "Leipziger Buchmesse" im Frühjahr, dazu ein öffentlich ausgebreiteter, aber nicht gerichtsanhängiger Plagiatsvorwurf von einem deutschen Journalisten, der den "Mordfall Hinterkaifeck" in Sachbüchern dokumentiert hat. Inzwischen hält "Tannöd" bei der 14. Auflage, 250.000 Stück sind verkauft, Autorin und Verleger dürfen sich freuen.

Raffiniert einfach

Und die Leser und Leserinnen? Ja, die dürfen sich auch freuen, denn "Tannöd" ist ein raffiniert einfach gemachter Kriminalroman. Aus mehreren Erzählperspektiven, aufgebrochen noch durch Zitate aus einem historischen "Andachtsbuch für die christliche Frau" - ein literarisches Verfahren, das man hier zu Lande aus der Prosa des Kärntners Josef Winkler kennt - erzählt Schenkel die Vor- und Nachgeschichte der Bluttat und schafft in knapper Sprache eine authentisch-glaubwürdige Rekonstruktion des dörflichen Milieus jener Tage. Inzest statt Idyll, Geiz und Neid statt Dorf- und Volksgemeinschaft.

Das alles auf gut 120 Seiten, ohne unnötig blutig-schauriges Brimborium. Auch das könnte ein Teil des Erfolgsrezepts dieses Kriminalromans sein, setzen doch die Großverlage immer stärker auf möglichst dicke Wälzer, bluttriefend und sexbeladen.

Postskriptum: Noch in diesem Sommer, im August, legt Andrea Maria Schenkel Roman Nummer zwei vor: "Kalteis". Wieder geht's um einen historischen Kriminalfall. Und wieder heißt der Verlag Edition Nautilus.

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Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 15. Juli 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Andrea Maria Schenkel, "Tannöd", Edition Nautilus, 2006, ISBN 978-3894014797

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Edition Nautilus