Planung unter Geheimhaltung

"Moses und Aron" anno 1974

Das ORF-Symphonieorchester ist im Aufbau, als es 1970 darum gebeten wird, für ein Filmprojekt Schönbergs "Moses und Aron" einzuspielen. Die Anfrage kam von einem prominenten Dirigenten. Es sollte eine mehrfach prämierte Einspielung werden.

Ausschnitt aus "Moses und Aron"

Kurz vor Weihnachten 1970. Bei Otto Sertl, dem Leiter der Musikabteilung des noch jungen Senders Österreich 1, läutet das Telefon. Am anderen Ende: Michael Gielen, Dirigent mit engen Bindungen an Wien. Der Filmemacher Jean-Marie Straub hat ihn kontaktiert, über Vermittlung des italienischen Komponisten Luigi Nono.

Es geht um ein Projekt, von dem Straub träumt, seit er 1959 an der Städtischen Oper Berlin "Moses und Aron" gesehen hat: Das erst posthum uraufgeführte musiktheatralische Hauptwerk des acht Jahre davor verstorbenen Arnold Schönberg, "Moses und Aron", zu einem Film zu machen, und zwar, wie Straub schreiben wird, einem "echten Straub = Musikfilm, gebaut auf der vollständigen Partitur und dem vollständigen Text von Arnold Schoenberg; keine abgefilmte und auch keine verfilmte Oper (...)". Ob sich nicht vielleicht der ORF dem Projekt anschließen möchte und sein Orchester für die Tonaufnahmen zur Verfügung stellt?

Klangkörper im Aufbau

Otto Sertl kann das Risiko einschätzen: Das ORF-Symphonieorchester, das heutige Radio-Symphonieorchester Wien, ist erst 1969 aus dem vorwiegend mit unterhaltender Musik beschäftigten Großen Wiener Rundfunkorchester hervorgegangen, ein Klangkörper im Aufbau, noch nicht firm in Musik des 20. Jahrhunderts. Dennoch sagt er spontan zu: Zu verlockend ist die Chance, sein Orchester außer über den Film - Jean-Marie Straub und seine Lebenspartnerin Danièle Straub-Huillet hatten eben mit ihrer "Chronik der Anna Magdalena Bach" einen großen Erfolg - auch mit einer an diesen angeschlossenen Platteneinspielung von "Moses und Aron" bekannt zu machen.

Das Schönberg-Werk ist seit der konzertanten Uraufführung 1954 weltweit selten als Bühnenproduktion gezeigt worden und gilt als die vielleicht größte Herausforderung des gesamten Opernrepertoires; noch existiert keine Plattenaufnahme.

Absolute Geheimhaltung

Kaum einen Monat dauert es, bis unter absoluter Geheimhaltung die Grobplanung "steht", die neben dem Film der Straubs, den der ORF mit den Dritten Programmen der ARD und der RAI koproduzieren soll, auch eine davon unabhängige Radioproduktion vorsieht, die man via LP verbreiten will.

Die Doppelgleisigkeit ergibt sich aus dem Arbeitsverfahren von Jean-Marie und Danièle Straub: Die beiden lassen kein Playback zu, sondern verlangen von ihren Akteurinnen und Akteuren und teils auch von dem in "Moses und Aron" übermäßig geforderten Chor Live-Gesang vor der Kamera; nur die Orchester-Tonspur und ausgewählte Chor-Passagen sollen voraufgenommen werden, vom ORF-Symphonieorchester unter Michael Gielen und von dem von Gottfried Preinfalk einstudierten ORF-Chor.

Sendesaal wird eigens umgebaut

Von den ersten Geheimverhandlungen bis zur Realisierung des Projekts rund dreieinhalb Jahre später werden noch viele Briefe zwischen der römischen Piazza delle Rovere, wo die Straubs wohnen, und der Wiener Argentinierstraße hin und her geschickt.

Und es braucht strategisch ausgeklügelte Probenpläne für die Tonaufnahmen, die für viele Passagen der Oper doppelt erfolgen müssen: Die Film-Tonspur erfordert eine andere Mischung als die in Achtspur-Technik und mit allen Gesangspartien erstellte Rundfunk- und Platten-Version; der eigens umgebaute Große Sendesaal im Wiener Funkhaus wird von März bis Mai 1974 für Vorproben, Proben und Aufnahmen völlig blockiert sein - und Gottfried Preinfalk studiert mit dem ORF-Chor überhaupt schon seit Herbst 1973.

Schallplattenpreise

Das Ergebnis der Arbeit, die noch 1974, zu Arnold Schönbergs 100. Geburtstag, veröffentlichte Plattenaufnahme von "Moses und Aron", wird dann sowohl mit dem "Grand Prix Mondiale du Disque 1975" als auch mit dem "Großen Deutschen Schallplattenpreis 1976" ausgezeichnet werden.

Und der "Moses"-Film, den das Team rund um Jean-Marie Straub und Danièle Straub-Huillet gemeinsam mit Michael Gielen, den Solistinnen und Solisten (darunter Günter Reich als "Moses" und Louis Devos als "Aron") und dem ORF-Chor im Spätsommer 1974 in den Ruinen einer antiken Arena in Avezzano in den Abruzzen abdreht, ragt bis heute monolithisch aus den Opernverfilmungen jener Ära hervor: karg, idealistisch, fanatisch - wie das Projekt als Ganzes, das in der Geschichte der Ö1 Musikabteilung nichts Vergleichbares hat.

Mehr zu Michael Gielen in oe1.ORF.at

Hör-Tipp
40 Jahre Ö1. Musikalische Schätze aus dem Ö1 Archiv, "Moses und Aron", Sonntag, 5. August 2007, 19:30 Uhr

Link
Arnold Schönberg Center - "Moses und Aron", Audios, Werkanalyse, Diskographie