Anfang und Ende einer Ehe
Am Strand
Wie immer bei Ian McEwan, gibt es auch in seinem neuen Buch kaum Handlung. Diesmal "seziert" er ein Paar in der Hochzeitsnacht. Er zeigt, dass ein Moment scheinbar höchster Individualität in Wirklichkeit gesellschaftlich determiniert ist.
8. April 2017, 21:58
In Ian McEwans Prosa geht es nie oder nur am Rande um erzählenswerte Vorgänge. Es gibt keine Handlung, die durch äußere Ereignisse vorangetrieben wird, oft herrscht sogar Stillstand, gerade dann, wenn es um persönliche Beziehungen geht. McEwans neuer Roman "Am Strand" ist eine weitere Versuchsanordnung in McEwans Menschenlabor, eine simple Geschichte dient der kühlen Analyse menschlichen Verhaltens unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen.
Keine Sprache für Sexualität
An einem Juliabend des Jahres 1962 sitzt das frisch vermählte Paar Edward und Florence in der Flitterwochensuite eines Hotels mit Meerblick beim Abendessen. Der Appetit ist bescheiden und das Gespräch belanglos. Nicht, dass sich die beiden nichts zu sagen hätten, vielmehr sind sie gedanklich damit beschäftigt, was nach dem Essen folgen soll, denn, so wollen es die Regeln, die erste Nacht nach der Hochzeit ist die Hochzeitsnacht. Und in dieser wird, wie man so sagt, die Ehe vollzogen. Jedenfalls war das 1962 noch so.
Und damit sind wir schon bei den gesellschaftlichen Voraussetzungen, denn nach Ende der autoritären Nachkriegszeit und vor Beginn der auf die Auflösung autoritärer Machtverhältnisse abzielenden Beat-Ära und der studentischen Protestbewegungen gab es für Sexualität keine Sprache.
Begehren und Ekel
Beinahe in Echtzeit beschreibt McEwan die Qual des jungen Paares, in wenigen Augenblicken das machen zu müssen, was man einerseits gern tun würde, von dem man aber andererseits annimmt, die Würde und Integrität der eigenen Person sei von dessen Gelingen oder Scheitern abhängig. Für Edward, dem Bräutigam, wäre der gelungene Sexualakt nicht nur eine Umsetzung seiner Phantasien, er bedeutete auch den Höhepunkt seines sozialen Aufstiegs aus einer Unterschichtfamilie zum Schwiegersohn eines angesehenen Fabrikanten.
Und Florence, die kunstsinnige Tochter aus gutem Hause, zwingt sich nur zu dem einen Gedanken: die Zähne zusammenzubeißen und Edward nicht zu enttäuschen, denn eigentlich empfindet sie bei dem Gedanken an den auf ihr liegenden schwitzenden, keuchenden Mann, an Penetration, Körpersäfte und Gerüche nichts als Ekel.
Normierung und Anpassung
Dieser Moment der Erstarrung durch Angst und Abneigung wird von McEwan dazu genutzt, seine Protagonisten zu sezieren. Stück für Stück trennt er sie auf, legt ihre Biografien frei, die sozialen Prägungen, eine Kultur der Sprachlosigkeit, wenn es um Belange des Individuums geht, die damit verbundenen Rollenbilder und Körpervorstellungen.
Dabei wird klar, dass es nicht um das weitgehend belanglose Jahr 1962 geht. McEwan, der kein Nostalgiker sondern ein Analytiker ist, bezweckt etwas anderes: nämlich den Nachweis, dass ein Moment scheinbar höchster Individualität und Intimität in Wirklichkeit gesellschaftlich determiniert ist. Menschen sind nicht frei in ihrem Denken und Handeln, weil jede Biografie eine Abfolge von Normierungsmaßnahmen und Zeitgeistanpassungen ist.
Kein Entkommen
Ian McEwan lässt seine Figuren nicht einen Augenblick lang aus dem engen Korsett der Konventionen und Vorstellungen ihrer Zeit ausbrechen, nicht einmal in ihrer Phantasie. Und so kommt es, wie es kommen muss: Die körperlichen Möglichkeiten halten dem psychischen Druck nicht stand, die Sache im Bett geht schief. Nichts Besonderes beim ersten Mal, könnte man meinen, aber für Edward und Florence ist dieses Scheitern die Bestätigung aller Selbstzweifel. Weil die Liebe keine Sprache hat, verkümmert sie sie in der Sprachlosigkeit der von sich selbst enttäuschten Eheleute.
In diesem Moment nimmt die Geschichte - wie immer bei McEwan - eine überraschende Wendung. War bis dahin der Verlauf der Geschehnisse absehbar, zeigt sich nun, wie ein scheinbar banaler und wenig dramatischer Vorgang allein durch das Nicht-zur-Sprache-Finden des Paares die gemeinsame Zukunft zunichte macht.
Gerade durch diese plötzliche Wendung ins Unglück, die so leicht abzuwenden wäre und dennoch nicht abzuwenden ist, weil man sich eben nicht so einfach über Tabus hinwegsetzen kann, stößt McEwan ein Fenster seines nüchternen Labors auf. Mit der Trennung der beiden öffnet sich nämlich ein weites Feld an Zufällen. Plötzlich läuft nichts mehr in vorgegebenen Bahnen, ändern sich Lebenspläne. Auch wenn das soziale Sein das Bewusstsein bestimmt, so gibt es doch Unwägbarkeiten, und die sind es, die das Leben erträglich machen. Insofern endet "Am Strand" tröstlich.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 10. August 2007, 16:30 Uhr
Ex libris, Sonntag, 12. August 2007, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Ian McEwan, "Am Strand", aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, ISBN 978-3257066074