Ruth Klüger, Literaturwissenschafterin
Auschwitz als schrecklicher Zufall
Für eine zehnjährige Wienerin beginnt 1942 das Grauen: Mit der Mutter nach Theresienstadt deportiert - da waren Vater und Bruder bereits ermordet. Dann nach Auschwitz-Birkenau, dann ins Arbeitslager Christianstadt, aus dem die Flucht glückte.
8. April 2017, 21:58
Ruth Klüger über das Reden und das Verdrängen
Nach einer kurzen Zwischenstation in Bayern emigrierte Ruth Klüger 1947 in die USA, studierte Literatur und Germanistik. Von 1980 bis 1986 war sie - eine Lessing- und Kleist-Spezialistin - Professorin an der Princeton University und danach Professorin für Germanistik an der University of California in Irvine, sowie seit 1988 Gastprofessorin an der Georg-August-Universität Göttingen.
Renata Schmidtkunz: Frau Klüger, in Ihrer 1992 erschienenen Biografie "Weiter leben. Eine Jugend" schreiben Sie: "Auch von mir melden die Leute, die etwas Wichtiges über mich aussagen wollen, ich sei in Auschwitz gewesen. Aber so einfach ist das nicht. Was immer ihr denken mögt, ich komme nicht von Auschwitz her, ich stamme aus Wien."
Ruth Klüger: Ich schreib' dann gleich nachher, "Auschwitz war nur ein schrecklicher Zufall in meinem Leben". Wenn man als Gegensatz zu "Zufall" das Wort "Schicksal" nehmen will, dann könnte man sagen, Wien ist schon eher Schicksal, das heißt etwas, was einen geprägt hat, und was man nie abschütteln kann, nämlich die frühe Kindheit. Und die ist in der Erinnerung zwar ziemlich negativ - ich hab keine guten Erinnerungen an Wien. Aber andererseits ist es eben die Stadt, in der ich reden, lesen, schreiben und hören gelernt hab. Und das ist im Grunde alles, was man zu einem geistigen Leben braucht. In dem Sinne kann ich nicht umhin zu sagen, dass ich Wienerin geblieben bin. Ich sag' das manchmal zähneknirschend, und manchmal lachend, manchmal ist es mir recht, und manchmal auch nicht. Ohne Auschwitz hätte ich ganz gut auskommen können und wäre dieselbe. Ohne Wien wäre ich eine andere.
Was sind Ihre Erinnerungen an Wien? Sie sagen, es waren eher schlechte Erinnerungen?
Ach Gott, im März 1938 war ich sechseinhalb. Und damit fängt das Bewusstsein von Ausgegrenztsein an. Und das Krisenbewusstsein. Und die Verfolgung. Ich habe Wien als eine judenfeindliche Stadt erlebt. Als eine Stadt, wo man nie sicher war. Als eine Stadt, als der man heraus wollte. Als eine Stadt, in der sich die Menschen vor ihren Mitbürgern gefürchtet haben. Eine zutiefst unfreundliche, feindselige Stadt, in der immer mehr verboten wurde, so dass man statt in eine erweiterte Welt hinein zu wachsen, eine Welt erfuhr, die immer mehr zusammengeschrumpft ist. Und wo dann eigentlich auch keine Zuflucht mehr war außer Bücher.
Wenn Sie schreiben "Ich komme nicht von Auschwitz her", dann sagt dieser Satz ja noch mehr aus. Er sagt etwas darüber aus, wie Menschen, die den "Holocaust", die Shoah erlebt haben, bis heute in erster Linie damit identifiziert werden. Man nimmt ihnen auch ein Stück Identität über das, was vorher war. Sind Sie damit einverstanden?
Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Und dagegen wehre ich mich. Das ist natürlich ein Stück meines Lebens. Aber es ist bei weitem nicht so wichtig, wie viele andere Dinge, die vorher kamen. Und nachher kam noch Vieles, was gut und schön und aufregend war, und was auch enorm wichtig war. Aber diese zwölf Jahre Hitler werden ja nicht umsonst immer wieder ausgegraben, diskutiert, im Fernsehen gezeigt. Sie sind einfach - wie immer man sie behandeln will - interessant, nicht?
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Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 16. August 2007, 21:01 Uhr
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CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop
Buch-Tipp
Ruth Klüger "Weiter leben. Eine Jugend", dtv, ISBN 9783423119504