Sänger mit Spielbegabung
Höngen und Rosvaenge
Als Karajan glaubte, auf ihn verzichten zu können, mieteten Enthusiasten einfach den Musikvereinssaal und veranstalteten umjubelte Arienabende: Helge Rosvaenge wurde vor 110 Jahren geboren. Er und Elisabeth Höngen waren Sänger mit Spielbegabung.
8. April 2017, 21:58
Wenn heute immer wieder von der optischen Komponente bei Opernsängerinnen und -sängern die Rede ist und dabei die Meinung geäußert wird, in früheren Zeiten wären Vertreter dieser Spezies vorwiegend dick, unbeweglich und schauspielerisch unbegabt gewesen, so ist das schlicht und ergreifend in die Kategorie Ammenmärchen einzuordnen.
Die Bezeichnung "Salamitenöre" hat mein Freund Giuseppe Taddei einmal erfunden und damit Sänger gemeint, die stets bloß herumhängen wie eine Salami und sich lediglich auf ihr mehr oder weniger attraktives Stimmtimbre verlassen. Das genaue Gegenteil von Opernsängern aber hat es ebenso immer schon gegeben. Künstlerinnen und Künstler mit angeborener Spielbegabung, stets auf der Suche nach neuen Interpretationen, stimmlich wie darstellerisch, und fanatisch darum bemüht, glaubhafte Menschen und Charaktere auf die Bühne zu bringen - wofür sie nur in den seltensten Fällen die Einfälle von mehr oder minder originellen Regisseuren gebraucht haben.
Umwerfende Bühnenpersönlichkeiten
Zwei Künstler sind Paradebeispiele für diese Sängerspezies: die 1906 in Westfalen geborene Altistin Elisabeth Höngen, deren Todestag sich in diesem Monat zum 10. Mal gejährt hat, und ihr rund ein Jahrzehnt älterer Tenorkollegen Helge Rosvaenge, geboren vor 110 Jahren, am 29. August 1897 in Kopenhagen.
Beide waren nicht nur herausragende Gesangskünstler mit einem fast unüberschaubaren Bühnen- und Konzertrepertoire, sondern gleichzeitig auch umwerfende Bühnenpersönlichkeiten, die ohne Zweifel auch am Burgtheater hätten reüssieren können.
Geballte Dramatik
Ob als Amneris oder Kundry, als Ortrud oder Azucena, Rosenkavalier oder Carmen: Die Höngen hat in allen von ihr verkörperten Rollen nur schwer zu erreichende Maßstäbe gesetzt. "Die größte Tragödin der Welt" hat Karl Böhm sie nach ihrer Lady Macbeth bezeichnet und damit allen zukünftigen Ladys ein schweres Erbe zugewiesen.
Wie viel geballte Dramatik schließlich auf die Bühne kam, wenn die Höngen - wie so oft in den Nachkriegsjahren - mit Helge Rosvaenge in einer Aufführung zusammen aufgetreten ist, lässt sich aus den spärlichen Tondokumenten erahnen, die aus dieser Zeit existieren.
Durch Zufall zurück zur Bühne
Dabei war Rosvaenge in dieser heute oft glorifizierten Nachkriegszeit alles andere als ein Jüngling. Ganz im Gegenteil: Mit Ende des Krieges hatte er seine Karriere eigentlich schon als beendet betrachtet, wollte nach Südamerika auswandern und dort seinen eigentlichen Brotberuf als Chemiker ausüben. Nur ein Zufall brachte ihn wieder zur Bühne, doch als er schließlich 1948 an der Wiener Staatsoper in Bizets "Carmen" ein glanzvolles Comeback feierte (mit der Höngen in der Titelrolle!), ließ ihn der Bazillus nicht mehr los.
Bereits in seiner ersten Wiener Nachkriegsspielzeit stand er hier über 100 Mal auf der Bühne und konnte nicht einmal annähernd alle Gastspielanfragen befriedigen. Das Publikum liebte ihn wie kaum einen zweiten Tenor, und als Karajan plötzlich glaubte, auf ihn verzichten zu können, mieteten vier Enthusiasten einfach den Großen Musikvereinssaal und veranstalteten mehrere Jahre hintereinander frenetisch gefeierte Arienabende.
Opernmarathon in Salzburg
Vor allem in den 1930er Jahren war Rosvaenge auch ein Kassenmagnet in Salzburg, wo er schier Unglaubliches geleistet hat. So sang er etwa im Festspielsommer 1932 in nicht weniger als fünf Opernproduktionen: den Sänger im "Rosenkavalier" - von Strauss persönlich heftig akklamiert - und die Erscheinung des Jünglings in der "Frau ohne Schatten" unter Clemens Krauss, den Belmonte in der "Entführung" unter Fritz Busch, den Tamino in der "Zauberflöte" und die heldische Bravourpartie des Hüon in "Oberon" unter Bruno Walter und sozusagen "zum drüberstreuen" noch Bachs "Hohe Messe" unter Krauss und "Die Schöpfung" unter Joseph Messner.
Gibt es heute irgendwo in der Welt einen stimmlich wie darstellerisch ähnlich attraktiven Tenor, der sich einen solchen Marathon zutrauen würde? Ich bin sicher, die Salzburger Festspiele würden ihn mit offenen Armen aufnehmen und vielleicht sogar ihren heurigen Absagejammer vergessen.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Dienstag, 21. August 2007, 15:15 Uhr