Erinnerungsgesetze, Verbote und Geschichtswissenschaft

Geschichte per Gesetz?

Immer mehr Staaten stellen das Leugnen historischer Sachverhalte unter Strafe. Es gibt auch Historiker, die vor dieser Entwicklung warnen. In Frankreich haben sich bekannte Wissenschaftler gegen jeden Eingriff der Politik in historische Belange ausgesprochen.

Der 23. Februar 2005 war ein Freitag. Die französische Nationalversammlung war nur schütter besetzt, die meisten Abgeordneten waren schon von Paris in ihre Wahlkreise heimgefahren. Auf der Tagesordnung stand ein Gesetz zur Verbesserung der Sozialleistungen für die Veteranen aus dem Algerienkrieg der Jahre 1958 bis 1962.

Es war keine besonders umstrittene Materie, und so fiel auch den wenigen anwesenden Abgeordneten der Paragraph 4 nicht besonders auf, der im Gesetzesentwurf neu war. Er lautete: "Die schulischen Lehrpläne anerkennen die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee, namentlich in Nordafrika, und sie räumen der Geschichte und den Opfern der Soldaten der französischen Armee jenen verdienstvollen Platz ein, den diese verdienen".

Ein Sturm der Entrüstung
Der Paragraph 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 sollte also die französischen Lehrer dazu verpflichten, im Unterricht die Rolle des französischen Kolonialismus in Indochina, Schwarz- und Nordafrika positiv zu beschreiben. Unmittelbar darauf erhob sich ein Proteststurm: Die Lehrergewerkschaften lehnten das Gesetz ab, zwischen Algerien und Frankreich kam es deswegen zu Spannungen, und Staatspräsident Chirac nannte das Gesetz "eine große Dummheit".

Auch viele Historiker meldeten sich zu Wort: Der emeritierte Kolonialhistoriker Claude Liauzu kritisierte, dass dieses Gesetz die dunklen Seiten der Kolonialisierung verschweige, all die Misshandlungen und Verbrechen. Der Historiker Gilbert Meynier argumentierte anders: Er würde es auch nicht akzeptieren, wenn das Gesetz verlangt hätte, den Kolonialismus als abscheulich darzustellen, sagte er. Und der Osteuropa-Historiker Marc Ferro schrieb: "Historiker können sich gegen eine solche Bestimmung nur auflehnen. Der Staat darf nicht die Moral der Geschichte festlegen, deren Akteur er war und seine Politik rechtfertigen, als habe er stets das Gute verkörpert. Diese Versuchung erinnert an die totalitären Staaten."

Interpretation und Bewertung von historischen Ereignissen

Das Gesetz, das die positive Rolle der Kolonialmacht festschreibt, war nicht das erste französische Gesetz, das sich mit der Interpretation und Bewertung von historischen Ereignissen befasste. Schon im Jahr 1990 wurde die strafrechtliche Verfolgung der Leugnung des Holocaust beschlossen, im Jahr 2001 wurde im so genannten "Taubira-Gesetz" der Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert. Auf dieses Taubira-Gesetz gestützt hat sich eine Klage gegen den Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau, den Verfasser eines 2004 erschienenen und viel gelobten historischen Essays über die Sklaverei. Eingebracht hatte die Klage eine Vereinigung von farbigen Franzosen aus den Antillen-Inseln.

Grenouilleau hatte die Charakterisierung des Sklavenhandels als Völkermord abgelehnt und darauf hingewiesen, dass der innerafrikanische und arabische Sklavenhandel bedeutender gewesen war als der transatlantische. Hatte er damit also den Sklavenhandel bagatellisiert, was ja auf Grund des Taubira-Gesetzes unter Strafe steht? Die Klage gegen den Historiker wurde zwar nach einigen Monaten zurückgezogen, sie war aber Wasser auf die Mühlen jener, die von den Erinnerungsgesetzen, den "lois mémorielles", eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit befürchten.

Wissenschaftliche Forschung gefährdet?

Die "Judizierung der Geschichte", so lautet ihr Argument, könne auch die wissenschaftliche Forschung gefährden. Interessant ist, dass sowohl die Loi Taubira als auch das Gesetz über die positive Rolle des französischen Kolonialismus beide von Gruppen initiiert worden sind, die sich von der offiziellen Geschichtsschreibung vernachlässigt fühlen - hier die Nachfahren der versklavten Kolonialvölker, da die kolonialen Siedler und die Algerienkämpfer. Mit Hilfe von Geschichtslobbies haben sie ihr Recht auf Anerkennung eingefordert und sich dabei gesetzlicher Festschreibungen bedient. Und sie haben nach der Logik der Opferkonkurrenz agiert, der zufolge das Opfer aus seinem Status heraus ein Recht auf eine privilegierte Behandlung habe.

Zu einer weiteren außenpolitischen Krise, diesmal mit der Türkei, hat ein weiteres einschlägiges französisches Gesetz geführt: Im Oktober 2006 hat die Nationalversammlung das Leugnen des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs unter Strafe gestellt. Einer der intellektuellen Verfechter dieses Gesetzes war der Philosoph Bernard-Henri Lévy. Er argumentierte in der Tageszeitung "Le Monde": "Es gibt in Frankreich Gesetze gegen Beleidigungen und Verleumdungen. Ist es da nicht das mindeste, auch ein Gesetz gegen diese absolute Beleidigung zu erlassen, die darin besteht, die Erinnerung an die Toten zu beleidigen? Es bedarf eines Gesetzes gegen den Negationismus, denn das Leugnen ist das höhere Stadium des Völkermords".

Freiheit für die Geschichte

Ganz gegenteilig argumentierten hingegen 19 bekannte Historiker und Historikerinnen, unter ihnen Pierre Nora, Pierre Vidal-Naquet und Elisabeth Badinter. Sie lancierten eine Petition unter dem Titel "Freiheit für die Geschichte". Darin sprachen sie sich gegen jede Vereinnahmung der Geschichte durch die Politik und gegen die Verkündung von offiziellen Wahrheiten aus. In der Petition hieß es: "Geschichte ist keine Religion. Der Historiker akzeptiert keinerlei Dogma, er respektiert kein Verbot, er kennt keine Tabus. Er kann störend sein. Die Geschichte hat keine Moral. Die Rolle des Historikers besteht nicht darin, etwas zu preisen oder zu verdammen, sondern im Erklären. Die Geschichte ist kein Gegenstand der Rechtssprechung. In einem freien Staat steht es weder dem Parlament noch den Justizbehörden zu, die historische Wahrheit zu definieren."

Mittlerweile haben sich über 1000 Historikerinnen und Historiker der Petition angeschlossen, darunter auch Jacques Le Goff und Saul Friedländer. Sie verlangen die Aufhebung aller vier Erinnerungsgesetze, weil sie, wie es heißt, einer Demokratie unwürdig seien. Diese geforderte Aufhebung der vier Erinnerungsgesetze würde auch das Gesetz gegen die Holocaustleugnung mit einschließen, auch dieses wird von diesen Historikerinnen und Historikern abgelehnt. Für Pierre Nora war dieses Gesetz überhaupt der Sündenfall: Es entstand, so argumentiert er, aus den besten Absichten heraus, hat aber dazu geführt, dass in der Folge immer mehr Gruppen ihre eigene Geschichtsdeutung per Gesetz festschreiben wollten.

Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 10. September 2007, 19:05 Uhr