Die Lust des Ratens

Der Reiz des Rätselns

Rätsel gibt es bereits seit der Antike. Bis heute haben sie ihren festen Platz in der Gesellschaft. Heutzutage hat das Rätseln jedoch als Freizeitgestaltung weitgehend an gesellschaftlicher Bedeutung verloren - überlebt haben individualisierte Formen.

In früheren Zeiten, als lange Winterabende noch nicht auf der Fernsehcouch verbracht werden konnten, gehörte das Aufgeben von Rätseln zur Unterhaltungskultur und war darüber hinaus ein kostengünstiger Zeitvertreib. Rätselspiele wie die Scharade waren ein fester Bestandteil der bürgerlichen Freizeit.

Großer Beliebtheit erfreuten sich Zahlen- oder Bilderrätsel, etwa der klassische Rebus oder volkstümliche Rätselgedichte, die man einander stellte.

Ein jeder hat’s,
im Grabe ruht’s,
der Herr befiehlt’s,
der Kutscher tut’s.

Mathematische Rätsel

Der Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal hat sich mit der Kulturgeschichte des mathematischen Rätsels befasst. Ein Rätsel sei die Kunst, anderen Probleme zu bereiten, und obendrein seien sie zweckfreie, ästhetische Wetten. Die Herausforderung eines Rätsels bestehe darin, den Mechanismus zu finden, nach dem es wie ein Code zu knacken sei, wie zum Beispiel in der folgenden Aufgabenstellung:

Wie ist es möglich, dass, wenn man 1 von 19 nimmt, 20 übrig bleibt?

Rätsel als Dialog

Seit der Aufklärung haben allerdings der Reiz des Denksports und die Lust am lexikalischen Quiz-Wissen nach und nach den ursprünglichen Sinn des Rätsels verdrängt, meint der Soziologe Reinhold Knoll.

In alten Kulturen bedeutete Raten, Zeichen und Botschaften zu deuten. Rätsel sprachen in Bildern, und die Bildersprache war die Sprache einer Welt, in der der Zauber noch Macht hatte.

So sind Rätsel ein fester Bestandteil in Mythos und Märchen, dokumentiert etwa in "1001 Nacht" oder der Sammlung der Gebrüder Grimm.

Nichtbeantwortung mit Folgen

Die schicksalhafte Bedeutung lag in der Nichtbeantwortung des Rätsels. Schiller bearbeitete im 18. Jahrhundert den Turandot-Stoff, der später von Puccini vertont wurde. Eine Prinzessin lässt jeden Bewerber töten, der ihr Rätsel nicht lösen kann. Bis einer kommt, der alle Antworten weiß und mit einem Gegenrätsel ihre Macht bricht.

Mit dem heiligen und zugleich gefährlichen Charakter des Rätsels hat sich der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga in seiner Studie "Homo ludens" beschäftigt. Das Rätsel bilde einen wesentlichen Teil des Opferkults. Das Lösen der Rätsel könne ebenso wenig entbehrt werden wie das Opfer selbst, so Huizinga.

In der Antike hatten die rätselhaften Aussagen des delphischen Orakels politische Bedeutung. Rätsel waren der Schlüssel zu neuen Deutungsformen der Wirklichkeit. Und Platon benutzte die didaktische Funktion von Rätseln und verwendete in seinen Dialogen immer wieder Rätselfragen als Stilmittel.

Die ältesten Rätselsammlungen stammen aus dem arabischen Raum. Die in Geschichten verpackten mathematischen Rätsel erreichten das maurische Spanien und hatten einen didaktischen Nebeneffekt: Die Zahl 0 gelangte aus der indischen Mathematik nach Europa.

Rätsel in den Massenmedien

Im 19. Jahrhundert eroberten Rätselaufgaben die Medien. Der erste professionelle Rätselmacher, der entdeckte, dass man mit Rätsel Geld machen könne, war der Amerikaner Sam Lloyd. Er hatte mehrere Kolumnen in amerikanischen Zeitungen und gestaltete mathematische Rätsel.

Historische Rätselaufgaben nachzuvollziehen kann heute noch reizvoll sein, etwa die berühmten Paradoxien des Zenon von Elea. In einer davon stellte dieser die Frage, warum Achill eine Schildkröte, die einen Vorsprung hat, bei einem Wettrennen nicht einholen kann. Zenons Aufgabe beruht auf einer mathematischen Annahme, die als viel diskutierter Trugschluss in die Philosophie-Geschichte eingegangen ist.

Die Herausforderung solcher und ähnlicher Aufgaben besteht darin, die Entscheidung für den richtigen Lösungsweg in der Reflexion nachzuvollziehen und mögliche Denkfehler zurückzuverfolgen.

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 15. September 2007, 17:05 Uhr

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