Geschichte, Kultur, Weltbild

Russische Wege

Russland - das war und ist Größe, Weite, Raum. Ein Sechstel der Erde. Wie sehr Alltag, Weltbild und Kultur der Russen durch den Raum geprägt sind, das untersucht der Schweizer Slawist und Schriftsteller Felix Philipp Ingold.

Die russische Welt lebte und erwuchs in räumlichen Welten und neigt selbst zu räumlicher Ungebundenheit. Das natürliche Seelentemperament hielt den russischen Menschen zu Einfalt und Offenheit an, verwandelte seine Leidenschaftlichkeit in Aufrichtigkeit und erhöhte diese Aufrichtigkeit zur Beicht- und Opferbereitschaft.

Iwan Iljin ist einer der zahlreichen Philosophen und Historiker, die Felix Phillip Ingold, Schweizer Schriftsteller, Übersetzer und Slawist in seiner fast sechshundertseitigen, höchst gelehrten und ziemlich flüssig zu lesenden kulturgeschichtliche Studie "Russische Wege" als Kronzeugen zitiert: Russland - das war und ist Größe, Weite, Raum. Ein Raum, der bekanntlich "mit dem Verstand" nicht einfach zu erfassen ist: 17 Millionen Quadratkilometern, elf Zeitzonen von Kamtschatka bis Kaliningrad, das Ganze macht - worauf in Russland fast immer mit Stolz und meist recht "ideologisch" hingewiesen wird, ein Sechstel der Erde aus.

Russische Rhetorik
Es sind aber nicht wirtschaftsgeografische oder umwelthistorische Daten und Fakten zu Taiga, Steppe und Tundra, die Ingold interessieren: vielmehr geht es um die - neumodisch gesprochen - "russische Mentalität", darum, wie sehr Alltag, Weltbild und hohe Kultur durch "den Raum" geprägt sind.

Man mag solch spekulative und pauschalisierende Volkstümelei unergiebig, vielleicht verfehlt finden. Tatsache ist, dass sie seit zweihundert Jahren als fester Bestandteil zur patriotischen russischen Rhetorik gehört und dass sie in der postsowjetischen Russländischen Föderation von neoslawophilen wie von altkommunistischen Ideologen (von orthodoxen kirchlichen Kreisen ganz zu schweigen) gleichermaßen hochgehalten wird.

Poetik des Raums

Seit dem Beginn der russischen Kolonialgeschichte besteht nicht nur eine "Inkongruenz zwischen Staat und Volk" - Russland wird heute von 160 Völkern bewohnt: Seit den altrussischen Chroniken entfaltete sich eine eigentümliche Poetik des Raumes, deren wichtigstes Motiv Größe ist.

Die zentrale Figur der Kultur ist der Bauer, der diesen Raum nicht organisiert, sondern sich auf der russischen Mutter-Erde gleichsam "treiben" lässt - Ausdruck eines geradezu mystischen Freiheitsverlangens der russischen Seele.

Verlockungen des Raums
Sprachgeschichtliche Überlegungen zu dieser Vorstellung grenzenloser Freiheit gehen unter dem Titel "Verlockung des Raumes" über in Kriegsgeschichte und führen zur "paradoxesten" Form russischer "Freiheit": zu der von zahlreichen Autoren beschriebenen Freiheit in der zaristischen Zwangs- oder im sowjetischen Arbeitslager.

Einer zeitlich späten Form gesellschaftlicher Selbstorganisation im idyllisierten "mir" (wörtlich: in der "Welt") des russischen Dorfes ist der Exkurs über "Heimat" gewidmet. Das russische Haus aus Holz stellt - anders als das importierte Landschloss der Aristokratie - einen regelrechten Kosmos dar. "Faulheit" wurde von dessen Bewohnern zur märchenhaften Qualität stilisiert - die nicht nur bei Aufklärern wie Radischtschew Anstoß erregten: Die Konzepte der grenzenlos gemächlichen räumlichen Ausdehnung fanden auch zahlreiche russische Kritiker:

In der Runde - eine Landschaft, die eine Wüstenei darstellt, in deren Zentrum ein Zuchthaus steht; darüber spannt sich, statt des Himmels, ein grauer Militärmantel.

Der Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin, von dem die sarkastische Landschaftsverarschung stammt, machte sich immer wieder auch über den größten, geradezu sprichwörtlichen russischen Missstand lustig, den Zustand der Straßen.

Der russische Weg
Dieser zweite Teil des Buches - hat in die mystische All-Einheit des Kontinents Bewegung gebracht: wer je Sibirien vom Flugzeug aus gesehen hat, dem wurde die Problematik dieses Weges mehr als deutlich. Hunderte, ja Tausende Kilometer voneinander entfernte Siedlungen, nur durch einen Strich verbunden: erst westlich des Ural beginnen sich die Strassen zu einem Netz an Verkehrsverbindungen zu verzweigen, um schließlich in Moskau zu münden.

Gegen den zentralen Organisationsfaktor, die Staatsmacht, begannen sich Bettler und Pilger in Bewegung zu setzen, prominentester der russischen Gottesnarren war der Graf Tolstoj, der sein Landgut verließ, um auf einer Eisenbahnstation zu sterben.

Ingold beschreibt die Burlaki, die Wolgatreidler, die mit Menschenkraft Schiffe flussaufwärts ziehen, sämtliche Formen von "Wanderern", bis hin zu militärischen Expansionsbewegungen, deren Sinn mitunter selbst den Regierenden verborgen blieb, wie die Notiz eines Innenministers aus dem Jahr 1865 beweist:

Taschkent ist von General Tschernjajew eingenommen worden. Niemand weiß, warum und wozu.

Der Zug der Zeit
Nicht der kolonialistischen Expansion dient die Trojka, der wild dahin stürmende russische Pferdedreispänner, dessen hymnische Verklärung an gut zwei Dutzend literarischen Beispielen untersucht wird. Deren Stilisierung ist die Kehrseite der inneren Kolonialisierung ab dem Jahre 1836, als eine erste Bahnlinie von Petersburg nach Zarskoj Selo errichtet wird.

Bis 1900 werden 40.000 Kilometer Schienen verlegt. Mehr als ein kurioses Detail in der Geschichte der russischen Eisenbahn ist der Umstand, dass für deren Errichtung die Konservativen, die sogenannten Slawophilen eintraten, während die progressiven "Westler" das moderne Transportmittel nur mit Spott bedachten: Zugfahren - meinte Iwan Turgenjew - verhalte sich zu wirklichem Reisen wie ein Bordellbesuch zu echter Liebe.

Am realen Zustand der Straßen und Wege hatte sich auch Ende des 19. Jahrhunderts wenig geändert: Als Zeuge dafür wird Anton Tschechow aufgerufen, der die russischen Postboten angesichts des zu überwindenden Morasts als "Märtyrer" bezeichnete. Weitere Exkurse behandeln die - im Westen leider viel zu wenig bekannte - russische Landschaftsmalerei, sowie die russische Naturdichtung.

West-östliche Beziehungen
Der vielleicht spannendste Teil von Ingolds Kulturgeschichte ist mit "Wege nach Russland" überschrieben - eine west-östliche Kontakt- und Spiegelgeschichte.

Nicht der Export eigener Kulturgüter und deren produktive Aufnahme im Ausland sind hier die Gradmesser für die Qualität und Originalität nationaler Kulturleistungen, sondern umgekehrt der Import, die Übernahme fremder Güter - Werte, Konzepte, Techniken - als unabdingbare Voraussetzung für die eigene kulturelle Produktivität. (....) Für Russland insgesamt gilt, dass hier das Fremde mehrheitlich unkritisch, oft sogar unbedacht übernommen und dem Eigenen eher übergestülpt als eingepasst wurde."

Das Eigene und das Fremde
Kein Land, in dessen Diensten so viele ausländische Militärs standen, wie Russland. Der Kreml wurde von italienischen Architekten gebaut, Petersburg, das "Fenster zum Westen", von Franzosen und Schweizern auf dem Reißbrett geplant, Beamtenschaft und Wissenschaftselite waren lange Zeit vorwiegend deutsch. Da konnte es zum Beispiel vorkommen, dass ein aus der Schlacht siegreich zurückkehrender General verlangte, er möge "zum Deutschen" befördert werden.

Eine der zentralen Figuren in Ingolds Buch, der Zivilisationskritiker und Antiwestler Fjodor Michailowitsch Dostojewski, erklärte die "rezeptive Haltung" zur höchsten Form der Produktivität und zu einer der besten Qualitäten Russlands. Anlässlich der Eröffnung des Moskauer Puschkindenkmals im Jahre 1880 sprach Dostojewski von einer neuen Rolle Russlands: Das Blatt habe sich jetzt gewendet. Während sich das Verhältnis seit Peters Westöffnung und Modernisierung in einem wettkämpferischen Verhältnis zum Westen befunden hatte, verfüge es jetzt über Vorbildfunktion in Sachen Menschlichkeit: was Hingebung, Anpassungsfähigkeit und modern gesprochen Integrationsbereitschaft angehe.

Allein diese typisch russische "Allmenschlichkeit", meinte Dostjewskij, wäre geeignet, unsere heillos zerfallene Welt noch einmal zu einen und ihr mit einem "neuen Wort" die Zukunft zu weisen. __

Außenwirkung der Kunst
Tatsächlich blieb es der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorbehalten, eine weltweite Vorbildfunktion auszuüben: El Lissitzkij, Tatlin, Malewitsch und Kandinskij hatten in ihren Arbeiten auf den "Primitivismus" der Volkskultur zurückgegriffen, im Grunde die Frucht unendlicher russischer Räume.

Den aus dem Westen übernommenen, von den Sowjets messianisch überhöhten Marxismus wies der Westen als Importartikel seinerseits zurück: auch wenn ein Bucharin einmal von einer "Europäischen Sowjetrepublik" sprach oder Leo Trotzkij sich ein revolutionäres Gebilde mit dem Namen "Vereinigte Staaten von Europa" zusammen fantasierte.

Das schönste Beispiel für den schillernden Charakter von Ingolds Untersuchungsgegenstand ist das "russischste" aller Spielzeuge, die ineinander gestülpten Puppen, die Matrjoschka. Sie werden erst seit Ende des 19. Jahrhunderts als Volkskunst in Werkstätten in der Nähe von Moskau hergestellt: Ihr eigentlicher Ursprung ist Japan - wohin es von Russland aus bekanntlich nicht weit ist.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:15 Uhr

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Buch-Tipp
Felix Philipp Ingold, "Russische Wege. Geschichte, Kultur, Weltbild", Wilhelm Fink Verlag, München 2007, ISBN 9783770544233

Link
Wilhelm Fink Verlag - Russische Wege