Der Mann mit 140 Prozent Lungenvolumen
Bassist der Superlative
Immer unter Strom, immer auf Achse, von einem Engagement zum nächsten - so hat ein TV-Porträt Kurt Rydl dargestellt, als "Gladiator" der Opernwelt. Jetzt findet eine Bild-Biografie aus Anlass von Rydls 60. Geburtstag für ihn den Begriff "Mega-Bass".
8. April 2017, 21:58
Wann war es ungefähr, dass Kurt Rydl Wien, die Staatsoper, als Dreh- und Angelpunkt der Karriere nicht mehr genügt hat? Rund um 1990? Seither ist seine Intimkenntnis der Flugpläne zwischen Dresden und Los Angeles, Mailand und London so legendenumwoben wie seine Fähigkeit, an einem Tag in zwei Aufführungen in zwei verschiedenen Städten mitzuwirken. (Wie viel von der Legende wahr ist, weiß nur er allein.)
Auch sein Rollenverzeichnis mit deutlich über 100 Einträgen wächst weiter: Zu Partien, die Kurt Rydl durch über drei Jahrzehnte Sängerlaufbahn begleiten (wie Osmin in Mozarts "Entführung aus dem Serail") kommen auch immer wieder Raritäten (von den Bassrollen in Montemezzis "L'amore dei tre re" bis zu Rimsky-Korsakows "Goldenem Hahn"). Und für den Ochs auf Lerchenau im "Rosenkavalier" von Richard Strauss ist es auf der ganzen Welt natürlich ein besonderes Atout, wenn ein Sänger aus Wien der die 1000 Facetten der Figur auskostende Interpret ist - und einer, der mit dem Anflug von Dialekt kein Problem hat.
Getragene Tempi
In Berlin an der Deutschen Oper bestand 1984 Giuseppe Sinopoli auf Kurt Rydl als Fiesco im "Simon Boccanegra", Riccardo Muti und Lorin Maazel holten ihn für Italienisch-Sprachiges an die Mailänder Scala, und als ein Bassist gesucht wurde, der in München im Verdi-Requiem mit den maximal getragenen, beseelten Tempi von Sergiu Celibidache klarkommen würde, war wieder Kurt Rydl zur Stelle.
Nicht, dass es immer nur das Sportive sein muss, das ihn reizt - aber die 140 Prozent des normalen Lungenvolumens, die Rydl einmal attestiert wurden, bei diesem Konzert glaubt man sie zu hören.
Topfenpalatschinken für Bernstein
"Fidelio"-Gastspiel in New York, Dirigent Leonard Bernstein. Rydl ist zarte 32, findet sich nach der Aufführung im Appartement des Maestro wieder, die Party geht allmählich zu Ende, nur Lenny spielt immer weiter am Flügel, phantasiert bis zum Morgengrauen. Der junge Bassist hört zu, den Silberbecher mit Whiskey in der Hand - und revanchiert sich am nächsten Tag mit selbstgemachten Topfenpalatschinken.
Die Worte von Staatsoperndirektor Egon Seefehlner nach diesem Rocco mit Bernstein am Dirigentenpult: "Jetzt, Rydl, können Sie alles singen!" bewahrheiten sich. Für die ganz großen Wagner-Basspartien hat Kurt Rydl die Geduld gehabt - und sie sind alle gekommen. Daland, Pogner, König Heinrich ... bis hin zum Gurnemanz in "Parsifal", wozu Placido Domingo meint: "Wenn Kurt die wunderschönen Passagen des dritten Aktes interpretiert, fühlt man, wie sehr er an den spirituellen Gehalt des Werkes glaubt".
Geleitwort von Domingo
Einschließlich Hagen in der "Götterdämmerung", der in den letzten Jahren zu einer der meistnachgefragten Rollen von Kurt Rydl weltweit geworden ist. Noch einmal Domingo: "Umso erstaunlicher seine Wandlungsfähigkeit, wenn man bedenkt - die souveräne Düsternis, mit der er als Hagen (in der "Götterdämmerung") alle ins Verderben stürzt."
Übrigens hat Placido Domingo auch für den im Brandstätter-Verlag erscheinenden Band "Kurt Rydl - der Mega-Bass" das Geleitwort geschrieben, in dem er vorschlägt, man sollte für Rydls "machtvoll-dunkle Stimme" eine neue Fachbezeichnung erfinden, nämlich "Helden-Baß" in Analogie zum Heldenbariton.
Leben "mit dem vollen Geschäft"
Wer dem Phänomen Kurt Rydl mit Statistiken beikommen will, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Da ist einfach zu viel: zu viele Rollen, zu viele Auftritte, zu viel Energie - nicht nur im Beruf. Bilder werden gesammelt, Wohnungen - dafür sind Taxirechnungen tabu, wer den Groschen nicht ehrt, und business class tut's auch. Oder eine Bahnfahrt. "Wenn der Kurt Rydl nicht singen kann, wird er krank", sagen Dr. Kürsten Senior und Junior, die Wiener Stimm-Doktoren Nr. 1.
"Wer restlos zufrieden ist, ist tot", sagt Kurt Rydl selbst. Und die Frage, ob er Extremist sei, die beantwortet er mit "In jeder Hinsicht". Devise: Leben "mit dem vollen Geschäft" - aber nicht nur als Selbstzweck, sondern als "Für-Streiter", Streiter für eine Sache, zum Beispiel dafür, dass Liebe im Zeitalter der Opernregie kein Fremdwort wird. Den 60. Geburtstag feiert er in Dresden, wo ihm erst unlängst mit dem König Philipp auch ein Rollenwunsch von 30 Jahren erstmals erfüllt wurde. Mit 60 alles andere als wunschlos - und immer wieder "Mit mir ... keine Nacht Dir zu lang"!
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 4. Oktober 2007, 15:06 Uhr
Buch-Tipp
Oliver Spiecker, "Der MegaBass Kurt Rydl", Christian Brandstätter
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Kurt Rydl