Fantastisches und Realistisches
Die Wissenden
"Die Wissenden" ist der erste Band einer erst vor kurzem beendeten Trilogie, an der Mircea Cartarescu elf Jahre arbeitete. Cartarescu dichtet der Welt ungeheure Wunder und wunderliche Ungeheuer an, Fantastisches geht aus Realistischem hervor.
8. April 2017, 21:58
Der Jugendliche sitzt im Zimmer auf dem Bettkasten und blickt auf Bukarest wie die Chimären bei Victor Hugo auf Paris, nur dass er die Füße auf die Heizung stützt, so dass ihm im Winter die Sohlen in einer Mischung aus Wohligkeit und Qual brennen. Schlaflos träumt er sich in die Stadt hinein, bis eines Tages gegenüber ein Plattenbau hochgezogen wird und ihm die Sicht aus dem dreiteiligen Panoramafenster, dem "Altarbild", verstellt.
Mit einem grandiosen Bild für den Verlust einer Harmonie von Innen und Außen, Subjekt und Stadt, Wirklichkeit und Traum beginnt Mircea Cartarescus Roman "Die Wissenden". Wie einst Gabriel Garcia Márquez Macondo erschafft Cartarescu mit den Mittel des magischen Realismus das sozialistische Bukarest neu - als Ort der Transzendenz.
Im "skythenländische Delirium"
Cartarescu hebt schon auf den ersten Seiten ab: Der Ich-Erzähler, Mircea genannt wie der Autor, steigt vom Bettkasten hinunter, befragt seine Mutter nach den aus Bulgarien stammenden Vorfahren und gleitet bald ins "skythenländische Delirium", in das Geschehen vor der Einwanderung: Ein bulgarisches Dorf ließ sich von Fremden zum Mohnanbau verführen und gab sich berauscht monatelang nur dem Trieb hin. Die sich vernachlässigt fühlenden Toten erstanden aus den Gräbern auf und töteten, unterstützt von Dämonen, wessen sie habhaft wurden. Engel kämpften schließlich eine kleine Schar Überlebender frei, die tief traumatisiert nach Rumänien auswanderte.
Diese apokalyptische Schlacht ist nur der Auftakt zu einem geheimnisvollen Ringen zwischen den Kräften der Finsternis und denen des Lichts im zweiten und dritten Teil des Romans. Sie erzählen von sexuellen Initiationen der Mutter im Kriegs- und Nachkriegs-Bukarest, von Mirceas grässlichen Krankenhauserlebnissen und von einer mystischen Opferzeremonie zweier "Wissender" in New Orleans, einem mit Voodoo vertrauten christlichen Priester und einem schwarzen Albino.
Schmetterling und Spinne
In barocker Üppigkeit und mit romantischer Verfallsfaszination geht in "Die Wissenden" Fantastisches aus Realistischem hervor: Eine Statue gleitet auf ihrem Sockel zur Seite und gibt eine in die Tiefe führende Leiter frei, steinerne Wände einer gigantischen Krypta gehen in warmes Fleisch über, Schmetterlinge und Spinnen bohren sich in Menschen hinein oder werden von ihnen geboren.
"Der Dualismus zwischen der Spinne und dem Schmetterling ist jener zwischen Teufel und Engel, Frau und Mann, Licht und Dunkelheit und so weiter", meint Cartarescu. "Früher habe ich Insekten gesammelt. Es ist eines meiner Hobbys, neben Quantenphysik und Hirnforschung."
Diese Interessen erklären viele der auffällig erlesenen Fremdworte in "Die Wissenden": Sogar Kraftwerke prunken mit "Paraboloidschloten". Lyrischer Byzantinismus? Vielleicht. Die seltenen und seltsamen Fremdworte sind jedoch auch manieristische Zauberstäbe, mit denen Cartarescu einer Welt ungeheure Wunder und wunderliche Ungeheuer andichtet.
Immense Sprachkraft
Seit Ende der 1980er Jahre schreibt der 1956 geborene Cartarescu Prosa. Damals war er Lehrer, heute unterrichtet er an der Universität Literatur und schreibt jede Woche einen politischen Artikel für eine Tageszeitung. Übersetzt war bisher neben einer Auswahl von Gedichten nur das Prosadebüt "Nostalgia". Folgen die Geschichten dort aufeinander, so sind sie in "Die Wissenden" ineinander geschoben und voller Anspielungen auf Proust, Kafka, Rilke, Swift. Doch für postmodern hält Cartarescu sein Werk nur in einer Hinsicht:
"Die Postmoderne erzeugt geschlossene und unabhängige Welten. Mein Werk ist, glaube ich, transzendent. Es zielt auf etwas, was über die Wirklichkeit hinausgeht."
Mircea Cartarescu ersehnt mit einer überbordenden Erfindungsgabe eine neue Ganzheit. Dieser Holismus, der die Grenzen zwischen Organik und Anorganik, Tier und Mensch, Erzählung und Reflexion beständig überwindet, droht die mystischen Geheimnisse unangemessen zu versimpeln: Sie wirken nach dem prächtigen Breitwandgeschehen beinahe ärmlich. Glücklicherweise belässt es Cartarescu bei wenigen Andeutungen und legt gleich wieder los mit einer immensen Sprachkraft, einem ungeheuerlichen Geschehen und einer fiebrigen Intensität, die den Leser mit sich reißen wie ein über die Ufer tretender Strom.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Mircea Cartarescu, "Die Wissenden", aus dem Rumänischen übersetzt von Gerhardt Csejka, Zsolnay Verlag