Reiches Erbe, schwierige Gegenwart
Jüdisches Leben in Ungarn
In Ungarn ist die viertgrößte jüdische Gemeinde Europas beheimatet. 80 Prozent der knapp 100.000 Juden leben in Budapest. Angst vor Antisemitismus gehört zu ihrem Alltag und die oft beschriebene Aufbruchstimmung des EU-Beitritts wirkt sich auf sie kaum aus.
8. April 2017, 21:58
In Ungarn ist die viertgrößte jüdische Gemeinde Europas beheimatet. 80 Prozent der knapp 100.000 Juden leben in der ungarischen Hauptstadt. Ihr einstiges Zentrum, die "Große Synagoge" in der Dohany-Straße befindet sich am Eingang der Elisabethstadt. Mit 3.000 Sitzplätzen ist sie die zweitgrößte Synagoge der Welt. In romantisch-maurischem Stil zwischen 1854 und 1859 vom österreichischen Architekten Ludwig Förster erbaut, wurde es in den 1990er Jahren mit finanzieller Hilfe des Hollywoodstars Tony Curtis aufwendig renoviert.
In den Gassen hinter der Synagoge finden sich koschere Bäckereien, Restaurants, ein jüdisches Reisebüro und das jüdische Gemeindezentrum. Trotz dieser Infrastruktur: Die Mehrheit der Budapester Juden lebt außerhalb der Elisabethstadt. Seit 1990 ist eine - allerdings sehr zögerliche - Rückkehr zu beobachten.
Vom Nazi-Terror in den Stalinismus
Hier befand sich das jüdische Ghetto. Das mit dem Dritten Reich verbündete Ungarn wurde erst im März 1944 besetzt. Anders als in der ungarischen Provinz konnten auch dank des beherzten Einsatzes von Diplomaten neutraler Staaten unter der Federführung des Schweden Raoul Wallenberg viele Juden gerettet werden.
Als die rote Armee Ungarn befreite, waren lediglich 200.000 der 800.000 Juden noch am Leben, die Mehrheit von ihnen in der Hauptstadt. Viele wanderten aus. Die, die blieben, mussten sich der kommunistischen Diktatur anpassen. Stalins Schauprozesse gegen Juden taten ihr Übriges - und verdrängten oftmals zwei Generationen lang ihr Judentum.
Jüdische Infrastruktur
Der Verband der Ungarischen Jüdischen Gemeinden steht mit weniger als der Hälfte ungarischen Juden in Kontakt. Sein Geschäftsführer, Gusztav Zoltai, erzählt von Schulen, der Universität, dem osteuropaweit einzigartigen jüdischen Krankenhaus. Er erzählt von der Versorgung Hilfsbedürftiger und von den rund 1600 hinterlassenen Friedhöfen, um die sich seine Organisation kümmert.
Die schulischen Einrichtungen sollen helfen, die Jugend an die Religion zu binden. Doch ansonsten sei es ähnlich "wie bei den christlichen Kirchen: Die Jugendlichen kehren erst im Alter zur Religion zurück." Überzeugend wirkt das nicht, es klingt eher wie eine lange gehegte Hoffnung. Und wie wirkt sich die oft beschriebene Aufbruchstimmung des EU-Beitritts auf die Juden Ungarns aus? "Keine besonderen Konsequenzen." Europa scheint weit weg.
Antisemitismus in Ungarn
Die ungarischen Juden sehen sich auch offenem Antisemitismus ausgesetzt. In der Stimmung der innenpolitischen Krise, in der Ungarn seit dem vergangenen Herbst steckt, finden auch verstärkt Rechtsextreme Gehör. Peter Feldmajer, Vorsitzender des Verbandes der Ungarischen Jüdischen Gemeinden, hatte die Juden dazu aufgerufen, während des Nationalfeiertags am 15. März zu Hause zu bleiben. Er hatte gar von einer "großen Seelenlast", Jude zu sein, gesprochen.
Rund zehn Synagogen und ein Dutzend Gebetshäuser sind in Budapest zumindest am Sabbat noch in Betrieb. Das fast schon museale Aushängeschild jüdischen Lebens, die Dohany-Synagoge des in Budapest dominierenden neologen Judentums, zieht im Winter in eine kleinere benachbarte Synagoge um. Zu hoch sind die Heizkosten, zu niedrig die Anzahl der dort zum Gebet Versammelten.
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