Von Tätern und Opfern
Gedenken an den Nürnberger Ärzteprozess
Vor rund 60 Jahren wurden im "Nürnberger Ärzteprozess" zahlreiche Todesurteile gegen Ärzte gesprochen. Der Prozess führte zum "Nürnberger Kodex", der die ethischen Grundsätze der Medizin bestimmt. Es gibt Tendenzen, diese Prinzipien aufzuweichen.
8. April 2017, 21:58
In Nürnberg fand zwischen Dezember 1946 und Sommer 1947 vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof der "Nürnberger Ärzteprozess" statt. Die Urteile wurden am 20. August 1947 - also vor rund 60 Jahren - verkündet.
Der Prozess fand im Anschluss an den "Nürnberger Prozess" gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher statt. Angeklagt waren Ärzte, die in der Zeit des Nationalsozialismus Versuche an lebenden Menschen vorgenommen haben. 23 Täter standen vor Gericht, 20 Ärzte und drei Nicht-Mediziner- in 16 Fällen lautete das Urteil: schuldig. Sieben Angeklagte wurden zum Tod verurteilt.
Nürnberger Kodex
Nur ein einziger Angeklagter war ein Österreicher. Wilhelm Beiglböck hatte im KZ Dachau Gefangene Meerwasser trinken und sie qualvollen Durst erleiden lassen. Dieser Fall wurde zum Exempel dafür, dass Experimente gegen den Willen der Versuchspersonen durchgeführt wurden und hatten den "Nürnberger Kodex" zur Folge.
Der "Nürnberger Kodex" schreibt vor, dass die Freiwilligkeit der Versuchspersonen unbedingt erforderlich ist. Die Patienten müssen eine informierte Entscheidung treffen können. Kein Versuch darf zum Tod oder dauerhaften Schaden des Patienten führen. Und der Versuchsperson ist es freigestellt, den Versuch jederzeit zu beenden.
Ende des Kodex?
Das sind nur einige der Prinzipien, die heute wieder vermehrt in Frage gestellt werden. Man denke nur an die Bioethik-Konvention des Europarates. Sie wäre das Ende des "Nürnberger Kodex". Sie erlaubt Versuche an Wachkoma-Patienten, auch ohne Einwilligung des Patienten selbst.
Rainer Possert vom SMZ Liebenau ist skeptisch. "Es gibt immer wieder Versuche den „informed consent aufzuweichen. Wie kann man zum Beispiel einen psychiatrischen Patienten an Medikamentenversuchen teilnehmen lassen, wenn man sich an den informed consent hält?"
Juristische Lücken
Es wurden auch juristische Lehren gezogen. Im internationalen Recht schuf man die Menschrechtskonvention, die Folterkonvention der UNO und die Völkermordkonvention. Die Medizinverbrechen mit massenhaften Zwangssterilisationen weisen in diese Richtung. Österreich hat zwar den Völkermord im Strafgesetzbuch aufgenommen, gesetzliche Bestimmungen gegen "Folter" oder "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" gibt es aber nicht, ortet Winfried Garscha vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes eine Gesetzeslücke.
Viele der in an Menschenversuche oder Euthanasie beteiligten Ärzte konnten ihre Karriere nach dem Krieg ungehindert fortsetzen. In den 1960er/70er Jahren wurden noch Prozesse geführt, vor Geschworenengerichten, und im Urteil spiegelte sich die Haltung der Gesellschaft: 1972 gab es mehrere skandalöse Freisprüche. Nur in einem einzigen Fall, im Fall des Gerichtsgutachters und Psychiaters Heinrich Gross, kam es Ende der 1990er Jahre zu einem neuerlichen Gerichtsverfahren. Es wurde wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
Erstmals Belohnung ausgesetzt
Das Bundesministerium für Justiz hat im Jahr 2007 unter der Leitung der damaligen Justizministerin Maria Berger einen neuen Weg eingeschlagen. Zum ersten Mal wurde eine Belohnung ausgesetzt - und zwar von je 50.000 Euro - für zwei der schlimmsten Naziverbrecher, die möglicherweise noch am Leben sind. Für den SS-Arzt Aribert Heim und den Mitorganisator der Judenvernichtung Alois Brunner.
Nur ein symbolischer Akt? "Das ist schon richtig, dass das ein symbolischer Akt ist. Es signalisiert aber den Willen des Staates diese Verbrechen nicht ungesühnt zu lassen", sagt Garscha. "Man kann die Täter nur solange sie leben verurteilen, solange Zeugen leben. Die Gesellschaft kann sich ein neues Verhältnis zu den Verbrechen der Vergangenheit erarbeiten. Die Justiz kann das nicht. Wenn die Täter tot sind, muss man feststellen, dass so und so viele Straftaten ungesühnt bleiben.“
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 18. Oktober 2007, 19:05 Uhr