Der Ortstafelkonflikt aus persönlicher Sicht

Erinnerungen an ein geteiltes Land

Niemand außerhalb Kärntens versteht den Ortstafelkonflikt. Und fast niemand in Kärnten hat eine Ahnung, warum es diesen Konflikt überhaupt gibt. Aber jeder ist dort mit dem Grenzlandmythos groß geworden. Auch ich.

In Arnoldstein haben viele Menschen einen slowenischen Familiennamen, wie in allen Orten im südlichen Kärnten: Vrhovnik und Sedovnik, Cicnik und Tschabuschnig, Lavrencic, Tribuc, Jelovcan und Cieslar, Suppnig und Sereinig. Andere wiederum haben deutsche Namen, sie heißen Weber, Burgstaller, Müller oder Zimmermann.

Ich kann mich nicht erinnern, dass sich irgendjemand im Ort als Slowene bezeichnet oder auch nur slowenisch gesprochen hätte. Mir ist auch niemand begegnet, der sich stolz oder gar selbstbewusst als Deutschkärntner bezeichnet hätte. Vom Deutschtum schwärmten allenfalls alte Männer, die noch in den 1960er und 1970er Jahren das Ende der Dritten Reichs als Niederlage empfanden. Die, wenn schon nicht dem Krieg, so zumindest der Ideologie etwas abgewinnen konnten.

Für mich war Kärnten ein eindeutig einsprachiges Land, und wenn jemand einen slawisch klingenden Namen trug wie mein Großvater, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass das kein deutscher Name sei. In Kärnten heißen die Leute nun einmal so, basta! Da ich den Großvater nur deutsch sprechen hörte, gab es für mich keinen Grund anzunehmen, dass sein Name irgendetwas mit einer anderen Sprache und die Geschichte meiner Familie mit einer anderen Kultur als der deutschen zu tun haben könnte.

Alltagssprache Windisch

Es gibt ein Foto, darauf hält mich meine Mutter als etwa Zweijährigem im Arm. An ihr helles Sommerkleid geschmiegt lächelt mein älterer Bruder in die Kamera. Wir stehen vor einem alten, niedrigen Bauernhaus mit kleinen vergitterten Fenstern. Die Mauer ist schlecht gekalkt und der Verputz an einigen Stellen so schadhaft, dass das grobe Gestein darunter zum Vorschein kommt. Solche "Keischn", wie man dazu sagte, waren aus dem Material gemacht, das nach dem Ersten Weltkrieg die weitgehend mittellosen Kleinbauern, die Keischler eben, in der Umgebung fanden. Auf dem Foto sind auch zwei ältere Frauen zu sehen. In ihren schwarzen Schürzenkleidern und mit den tief in die Stirn gezogenen Kopftüchern sehen sie aus wie zwei Schatten, die eine andere Zeit auf die Gegenwart dieser jungen Frau und ihrer beiden Kindern wirft.

Auch wenn das sehr lange her ist, kann ich mich an das Haus und die Frauen erinnern, die ich jeweils Tante nannte, obwohl es nicht meine Tanten waren. Mein Großvater, eine Vollwaise, war bei ihnen aufgewachsen. Wenn er mit ihnen sprach, dann verstand ich kein Wort. Nicht nur, weil sie sich sehr leise miteinander unterhielten, sondern vor allem, weil das, was über ihre Lippen kam, sich wie eine Geheimsprache anhörte. Das sei auch keine Sprache, erklärte man mir, als ich einmal danach fragte, das sei Windisch. Ich erfuhr aber nie, wozu das gut sein sollte, dieses Windisch, das sofort unterbrochen wurde, wenn jemand dazu kam, der nur des Deutschen mächtig war. Woraus ich schloss, dass der Gebrauch des Windischen ein Unfug älterer Leute war, eine längst ausgestorbene Mundart.

Windisch, hörte ich später immer wieder, sei ein Wirrwarr aus Slowenisch und Deutsch, wobei das Slowenische nicht wirklich als Slowenisch bezeichnet werden könne und das Deutsche nicht als Deutsch.

Wie das Slowenische, wenn auch nur in Partikeln, nach Kärnten kommen konnte, wollte mir nicht in den Kopf. Aber mein Verstand wurde in dieser Frage insofern nicht übermäßig beansprucht, da nie behauptet wurde, irgendjemand in diesem Land spreche tatsächlich Slowenisch. Windisch ja, Slowenisch nein.

Die beiden Tanten beherbergten in ihrer engen Keischn einen kleinen verkrümmten Mann fortgeschrittenen Alters, den alle Jock nannten, der stets einen schwarzen Filzhut trug und einen mageren Hund an seiner Seite hatte. Jock war der Knecht und mir schien, dass er stumm war. Jedenfalls hörte ich ihn nie sprechen. Viel später, als die beiden Tanten tot waren und mit dem Jock irgendetwas geschehen musste, erfuhr ich, dass er aus Slowenien stamme und dass es ihn nach dem Krieg nach Kärnten verschlagen habe. Wirklich interessiert hat seine Geschichte offensichtlich niemanden, vermutlich auch deshalb, weil er nie Deutsch gesprochen hat. Er kam dann in ein Altersheim, wo er aber bald starb.

Bluten Kärntner mehr?

Die Volksschule in Arnoldstein war in den 1960er Jahren noch ein schlossähnliches Gebäude. Es mutete tatsächlich wie der Sitz eines Grafen an, es gab Rundbögen und Erker und Türme und ein schwarzes Dach, das so hoch war wie sonst wo ein ganzes Haus.

Das Besondere an diesem Gebäude war die zerschossene Westseite. Im so genannten Heimatkundeunterricht erzählte man uns, dass es sich um Spuren von Kampfhandlungen aus den Jahren 1918 und 1919 handelte. In jener Zeit, so hörten wir, kämpften aufrechte Kärntner Männer gegen weniger aufrechte jugoslawische Männer und deren Verbündete hierzulande, weil die Jugoslawen und solche, die zu Jugoslawien gehören wollten, sich ein Stück unserer Heimat einzuverleiben trachteten. Im Dezember 1918 sei Arnoldstein von jugoslawischen Truppen besetzt worden, erzählte die Lehrerin, und unschuldige Männer seien an die Wand gestellt und erschossen worden.

Auch wenn ich mir nicht erklären konnte, warum das alles geschehen war, wurde mir doch klar, dass die Geschichte eine Geschichte des Verblutens ist. Zumindest in Kärnten. Kärntner bluten mehr als andere. Warum hat man uns das damals erzählt?

Die ganze unerfreuliche Aktion mehr als 40 Jahre vor meiner Geburt hatte einen Namen, und der lautete: "Abwehrkampf". Und die zerschossene Westseite unserer Schule sei ein Mahnmal für die heldenhafte Verteidigung unserer Heimat, sagte die Lehrerin. Und deshalb laute die vierte und wichtigste Strophe des Kärntner Heimatliedes so:

Wo Mannesmut und Frauentreu / die Heimat sich erstritt aufs neu / Wo man mit Blut die Grenze schrieb / und frei in Not und Tod verblieb / Hell jubelnd klingt's zur Bergeswand / Das ist mein herrlich Heimatland.

Fast ein Feiertag

An jedem 10. Oktober versammelte sich das ängstliche Volk von Arnoldstein vor dem Mörtl-Hubmann-Brunnen, benannt nach zwei Anführern des Abwehrkampfes. Männer im Kärntneranzug und mit ordensgeschmückter Brust marschierten auf, manche noch Kämpfer der Jahre 1918 und 1919, Greise mit blitzenden Augen und buschigen Schnurrbärten. Die meisten aber waren Nachkommen, Söhne und Enkel von Kämpfern, die sich mit den Tapferkeitsmedaillen der Toten schmückten. Alle sangen sie das Lied von der Blutgrenze.

Es sangen auch diejenigen, die nicht gekämpft hatten und keine Helden unter ihren Vorfahren hatten. Ich zum Beispiel. Als Kind fand ich es schön, wenn an einem kühlen Herbstabend sogar an sich unsentimentale Menschen feuchte Augen bekamen angesichts so viel zur Schau getragener Liebe zur Heimat.

Man konnte sich aufgehoben fühlen. In der Geschichte. Im Leid. Im Gesang. Im allgegenwärtigen Trachtenbraun. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand die Aufmärsche am 10. Oktober nicht gemocht hätte. Ich war mir sicher, dass auf der ganzen Welt der 10. Oktober gefeiert wird. So wie Weihnachten.

Das "Slowenenproblem"

Dass es in Kärnten ein so genanntes Slowenenproblem gab, erfuhr ich zum ersten Mal mit elf Jahren. Hatte ich zuvor von der Existenz einer slowenischen Volksgruppe nicht einmal etwas geahnt, las ich eines Tages im Herbst 1972 auf unserer Ortstafel unter dem mir bekannten Namen Arnoldstein den mir unbekannten Namen Podkloster. Das sei Slowenisch und das sei nicht in Ordnung, hörte ich von allen Seiten. Und weil ich das auch glaubte, schien es mir nur logisch, dass kurze Zeit später der Name Podkloster mit schwarzer Farbe übermalt war. Dann war keine Ortstafel mehr da. Und schließlich kehrte jene wieder zurück, die mir vertraut war und auf der nur Arnoldstein zu lesen war. Die Verwirrung hatte ein Ende. Gefragt wurde nicht. Erklärt auch nicht. Eine Laune des Bürgermeisters womöglich, von dem man sich erzählte, er habe wie ein kommunistischer Diktator den Ortseingang auch schon einmal mit seinem Namen schmücken wollen.

Dann las ich eines Morgens, als ich zum Zug ging, um nach Villach in die Schule zu fahren, auf unserem Bahnhofsgebäude die mir unverständliche Aufschrift "Clen 7". Ich weiß noch, dass mich weniger die Tatsache interessierte, was diese Aufschrift bedeutet, als vielmehr die Frage, wie es jemandem gelungen ist, unbeobachtet den von mehreren Seiten gut einsehbaren Bahnhof zu beschmieren.

1972 besuchte ich die zweite Klasse des Realgymnasiums in Villach und ich kann mich nicht erinnern, über die Existenz und die Rechte der slowenischen Minderheit jemals aufgeklärt worden zu sein.

Großvater war dagegen

Mein Großvater war ein entschiedener Gegner zweisprachiger Ortstafeln. Ich meine nicht meinen Großvater mütterlicherseits, der aus seiner rechten Gesinnung nie ein Hehl gemacht hat. Ich meine meinen anderen Großvater, den mit dem slowenischen Namen, der nicht nur deutsch sprechen konnte, sondern auch jenen slowenischen Dialekt, der gemeinhin Windisch genannt wurde und für den er sich zu schämen schien, wenn er ihn sprach. Wenn ich über die Grenze fahre, versteht mich dort niemand, klagte er oft. Als jedoch eines Tages sein amerikanischer Cousin Freddie zu Besuch kam, der kein Wort Deutsch sprach oder verstand, weil seine aus dem Gailtal stammenden Eltern untereinander nicht Deutsch sondern den slowenischen Dialekt ihrer Gegend gesprochen hatten, unterhielten sich die beiden alten Männer in jener Sprache, die ihnen offenbar die vertrauteste war. Mein Großvater blieb trotzdem sein Leben lang ein Gegner zweisprachiger Ortstafeln.

Bekanntschaft mit Kärntnerslowenen

Es hat 42 Jahre gedauert, ehe ich die erste Kärntnerslowenische Familie meines Lebens kennengelernt habe. Nicht dass es mir zuvor jemand verboten hätte. Ich kannte in der Schule Kinder aus slowenischen Familien, ich war sogar bei ihnen zu Hause. Ich habe allerdings viel später erst erfahren, dass es slowenische Familien waren, denn niemand sprach in meiner Anwesenheit ein Wort Slowenisch. Kärnten war schließlich deutsch. So lernten wir es und so nahmen wir es an.