Oder: Das Unglück ist, wo ich bin

Wir Wunderkinder

Hinter dem vermeintlichen österreichischen Literaturwunder stehen jede Menge Schicksale, von denen der unbedarfte Leser gar nichts ahnt. Dem Erfolg gehen Jahre der Erniedrigung voraus. Hier ist nur ein Beispiel von vielen.

"Seit neuestem bilde ich mir ein, glücklich zu sein", sagt Rohrmoser, "ich verkaufe, also bin ich".

Seit Rohrmoser von der Zeitschrift "News" interviewt und unter anderem als österreichisches Literaturwunder bezeichnet wurde, weiß er also wer beziehungsweise was er ist. "It's hard to be a saint", sagt er, aber jetzt könne er sich aussuchen, mit wem er sich an einen Tisch setzt. Einem Hörfunkredakteur soll er gesagt haben: "Lesen Sie zuerst den ganzen Proust, ehe Sie das Wort an mich richten". Was natürlich zur Folge hat, dass es zu diesem Wort nie kommen wird. Proust lesen, heißt scheitern.

"Sechzehntausend Exemplare, Zimmermann", sagt Rohrmoser, "das macht gut vierundzwanzigtausend Euro Cash! Und die Longlist des Mitteldeutschen Buchpreises nicht zu vergessen! The only way is up!"

Das war nicht immer so, denn lange Zeit lebte Rohrmoser davon, vor renitenten Schülern und pensionierten Deutschlehrern deutsche Götter- und Heldensagen zu deklamieren. Das tat er so lange, bis ihn eines Tages solche Rückenschmerzen plagten, dass er nicht mehr ohne fremde Hilfe aus dem Bett steigen konnte. "Alles psychosomatisch", sagte der Arzt, "was Sie brauchen ist entweder Drachenblut" (er lacht) "oder eine Therapie nach Freud" (er schaut mitleidsvoll).

"Was ich brauche", sagte Rohrmoser, "ist ein Roman, der mich unzerstörbar macht". Und er diktierte der slowakischen Heimhilfe von seinem Bett aus sein vermeintliches Opus magnum "Stern der Südsee". "Das gesamte zwanzigste Jahrhundert aus der Sicht einer Frau, die auf Tonga geboren wird, auf Tonga lebt und auf Tonga stirbt", schwärmte er, als das Manuskript abgeschlossen war, "die Pfeile der Kritik sollen an mir abprallen!"

Ihr Leben lang sollte die Protagonistin nichts von der Welt erfahren, außer dass auf Regen die Sonne folgt und auf die Jugend das Alter und auf das Alter der Tod. "Alles ist Ex-is-ten-ziell!", rief Rohrmoser, "es geht ums Ganze, um Tonga, ums Abendland!"

Der Verlag wollte dem Text dennoch kein Lektorat gönnen, das sei, sagte man ihm, nunmehr so üblich, man wolle in Gütersloh schließlich Geld verdienen anstatt es in Form von Gehältern oder Honoraren in den Sand zu setzen.

"Die Heuschrecken, Rohrmoser!" Der Verleger habe geschmunzelt und an seiner kalten Pfeife gezogen, erinnerte sich Rohrmoser später, als er sich entschieden hatte, nun doch mit einer Therapie nach Freud zu beginnen. "Ihre Muttersprache, Rohrmoser, werden Sie ja noch beherrschen", habe der Verleger ihm zugeraunt, so Rohrmoser. "Ja und noch was", habe der Verleger etwas kleinlaut nachgelegt, "wenn Sie selbst Korrekturen vornehmen, dann denken Sie bitte daran, dass der Setzer in Minsk etwas damit anfangen können muss, sonst kommen wir in Teufels Küche".

"Die Globalisierung, Zimmermann!", ruft Rohrmoser, "die Globalisierung hat den 'Stern der Südsee' auf dem Gewissen. Die Globalisierung und Sie!"

Ich hatte, als das Buch erschienen war, nach der Lektüre der ersten Seiten auf eine Papierserviette die Bemerkung: "beträchtliche stilistische Schwächen" notiert, die Serviette jedoch auf dem Kaffeehaustisch liegen lassen. Das Buch übrigens auch. Rohrmoser hatte davon Wind bekommen und mich bei einer seiner Swingerclub-Lesungen eine intrigante Sau genannt. Ich habe ihm aber verziehen und eines Tages sagte er mir: "Schwamm drüber, Zimmermann, die Seele ist ein krummes Land, in dem der Aufrechteste gebückt durchs Leben geht. Die Seele hat die Form von Österreich". Was uns verbinde, sei der Durchschnitt, antwortete ich und zitierte den klügsten Mann deutscher Zunge: "Die ökonomische und psychische Existenz der meisten wird durch das Mittelmaß verbürgt, und wer da glaubt, er könne es ignorieren, erliegt einem risikoreichen Irrtum. Es handelt sich nämlich nicht um eine bloße Rechengröße, einen statistischen Wert, sondern um einen Standard, der erreicht und gehalten werden muss."

"Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen!", schrie Rohrmoser und zog sich einige Monate ins Trappistenkloster Zeyring zurück, um "Karl, König der Kyniker" zu schreiben, einen stark autobiografischen Roman über das Wesen der modernen Künstlerexistenz und das Unwesen der Kritik. Jenes Buch, das das österreichische Literaturwunder begründen sollte: "The only way is up, Zimmermann!"

Nun also gehe ich mit Rohrmoser zur Präsentation anlässlich der Eröffnung der Bruchsaler Buchmesse. Der Verlag wollte unbedingt eine Lesung vom Sattelschlepper veranstalten, mit der Tonanlage der Scorpions: The Saint Has Come To Bruchsal!

Es regnet in Strömen, ein eisiger Wind fegt über den Schönbornplatz, kein Publikum hat sich eingefunden. Der Verleger mit der kalten Pfeife im Mund kommt mit zu Berge stehenden Haaren auf uns zugerannt, "Eine Katastrophe!", zetert er, "Na, na" beruhigt ihn Rohrmoser, "heute gehört uns Bruchsal...".

Wir stellen uns unter ein kleines Partyzelt und warten. Der Regen lässt nicht nach. Der Wind zerrt an der Vertäuung des Zeltes, das sich allmählich zur Seite neigt. Niemand kommt, Dunkelheit senkt sich über die Stadt. Wir sehen einander nicht an.

"Löffler hat abgesagt", flüstert der Verleger.

"Radisch?", fragt Rohrmoser.

"Radisch auch".

"Nüchtern?"

"Dito".

"Aber Zimmermann ist da", sagt Rohrmoser schließlich in die Stille des Bruchsaler Abends. "Ja", stöhnt der Verleger, "Zimmermann ist da".

"Und die Globalisierung", zischt Rohrmoser, "die sitzt uns auch im Nacken. Ich höre sie atmen".

Ich drehe mich um. Da steht doch tatsächlich der Sänger Bilgeri und versucht etwas zu singen. Ich sehe, wie ihm der Wind die Stimme zurück in den Mund stopft.

"Bilgeri ist gekommen", sage ich zu Rohrmoser.

"Ach", stößt er hervor, "wir Wunderkinder!"

Das Partyzelt kippt zur Seite, wir stehen im Regen und schauen auf den Sattelschlepper mit der Tonanlage der Scorpions. "Zimmermann", sagt Rohrmoser, "bitte gehen Sie. Auf der Stelle. Das Unglück ist, wo Sie sind".

Ich nicke und gehe.