Sind weniger vielleicht mehr?

Der demografische Wandel und seine Folgen

In Deutschland wird die Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren jährlich um knapp 200.000 Menschen schrumpfen, wenn man den Vorhersagen glaubt. Ist das Schrumpfen aufhaltbar und falls nicht, was werden die Folgen sein?

In 100 Jahren gibt es nur noch 25 Millionen Deutsche! Schlagzeilen wie diese beschäftigen unsere Nachbarn. Es sind die Demografen, die Bevölkerungswissenschaftler, die das Bild der aussterbenden Nation an die Wand malen. Herwig Birg etwa sieht Deutschland auf dem Weg in die demografische Katastrophe, weil die Bremswege dieser Entwicklungen, wie er sagt, sehr, sehr lange seien.

Birg gilt - selbst als emeritierter Professor - als der medial einflussreichste Bevölkerungswissenschaftler Deutschlands. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung räumte ihm eine ganze Serie ein, in der er als alleiniger Autor und ganz ohne Gegenstimme seine Ansichten in einem zehnteiligen "Grundkurs Demografie" verbreiten durfte. Ein ökologisch nachhaltiges Handeln "für den Menschen als natürliche Spezies" forderte er da. Und in seinem Buch "Die demographische Zeitenwende" verlieh er seiner Meinung Ausdruck, dass der heutige Geburtenrückgang "schlimmer sei als der 30-jährige Krieg".

Dem widerspricht der österreichische Demograf Rainer Münz. Es gebe in Österreich solche punktuellen Einbrüche, etwa in verlassenen Industrieregionen, aber im Großen steige die Bevölkerungszahl kontinuierlich an.

Deutschland ist da anders und verliert seit vier Jahren langsam, aber stetig an Einwohnern.

Zwischen den Polen

"Wir sterben aus" und "Hilfe, wir werden überflutet": Zwischen diesen Polen oszilliere die Diskussion, sagt Heinz Fassmann. Er glaube weder an das Eine, noch an das Andere. Der Professor für Angewandte Geografie, Raumforschung und Raumordnung an der Universität Wien hat Anfang der 1990er Jahre ein Szenario zur österreichischen Bevölkerungsentwicklung das Jahr 2030 betreffend erstellt. Darin hat er (bis heute jedenfalls zutreffend) steigende Bevölkerungszahlen für Österreich vorhergesagt.

Gibt es tatsächlich so etwas wie eine ideale Bevölkerungsgröße? Definitiv nicht, sagt Heinz Fassmann. Solche technokratischen Begriffe würden der Dynamik von Gesellschaft nicht gerecht, meint er.

Kinderlose Akademikerinnen?

Muss man noch extra darauf hinweisen, dass es so gut wie nur Männer sind, die den Frauen mehr oder weniger deutlich die Kindernorm vorgeben? Manchen Frauen zudem mehr als anderen. Besonderes Aufsehen erregte der aus Wien gebürtige Sozialforscher Meinhard Miegel, als er 2002 in seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft darauf hinwies, dass Akademikerinnen zu mehr als 40 Prozent kinderlos wären. Hier drohe der Verlust von besonders kostbarem reproduktiven Kapital für die ganze Gesellschaft.

Es war Tomas Sobotka, ein Mitarbeiter von Wolfgang Lutz am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der herausfand, dass die Zahl von 40 Prozent kinderlosen Akademikerinnen auf gravierenden Mängeln der amtlichen Geburtenstatistik beruhte. Nimmt man dagegen die Lebenslaufdaten, die berücksichtigen, dass Mütter heutzutage immer später ihre Kinder bekommen, zeigte sich, dass nur 20-25 Prozent der Akademikerinnen ihr Leben lang kinderlos bleiben.

Wir bekommen also weniger Kinder, wenn auch nicht ganz so wenige, wie es auf den ersten Blick zu befürchten wäre. Ein Ende des Abwärtstrends ist nicht in Sicht, ganz im Gegenteil. Auf die Frage nach der idealen Kinderzahl würden vor allem die Jüngeren und hier wiederum mehr die Männer deutlich geringere Zahlen angeben, als noch vor zehn Jahren, sagt Wolfgang Lutz. Etwa ein Drittel der unter 30-jährigen Männer geben in solchen Befragungen an, überhaupt keine eigenen Kinder haben zu wollen.

Zwischen Fakten und Ideologie

Spätestens jetzt könnten Sie endgültig verwirrt sein von Indikatoren, Fertilitätsraten und nur geringfügig voneinander abweichenden Zahlen. Genau das wollen manche Demografen auch erreichen. Dann kommen Sätze wie dieser umso deutlicher rüber:

Völker überleben nur in eigenen Kindern, nicht in Kindern anderer.

Der Bamberger Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid schrieb dies 1999 in seinem Buch "Die Moralgesellschaft". Darin hieß es weiters:

Wir brauchen keine Einwanderung, sondern ein Lösung für das Überleben des deutschen Volkes.

Dieses Zitat zeige die Problematik die in der Vermischung von Analyse und normativer Aussage liege. Wissenschaft sei nicht legitimiert zu entscheiden, wer Teil eines Volks sein dürfe, sagt Heinz Fassmann. Für den Geografen, der viel zur Demografie gearbeitet hat, schließen Josef Schmids Aussagen an Denkfiguren an, die im 19. und 20. Jahrhundert populär waren. Nationen und Völker müssen wachsen, damit sie im Daseinskampf überleben. Völkisches Wachstum ist Stärke und Stärke ist Macht.

Die Idee vom Fortschritt durch Bevölkerungswachstum geht auf den französischen Staatstheoretiker Jean Boudin zurück, der im 16. Jahrhundert erklärte:

Es gibt weder Wohlstand noch Macht außer durch Menschen.

Dass Bevölkerungswachstum die Wirtschaft antreibe, ist für uns zu einer Art common sense geworden, zum Motor der "Wir brauchen mehr Kinder"-Debatte. Und das, so der Soziologe Karl Heinz Hondrich,

obwohl eine weltweite Untersuchung von 134 Ländern zu dem Ergebnis kommt, dass sozioökonomisches Wachstum zurückgeht, wenn die Geburtenraten steigen.

Hatte Malthus doch recht?

Thomas Robert Maltus fürchtete im 18. Jahrhundert, dass die Bevölkerung stärker wachse als die Wirtschaft, die durch das "Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag" gebremst werde. Um der Verelendung vorzubeugen, forderte er eine Beschränkung der Geburtenzahl. Bis heute steht diese Philosophie hinter der Politik der Geburtenkontrolle der Vereinten Nationen und der Ein-Kind-Politik Chinas, so der Sozialwissenschaftler Albert Reiterer, der klarstellt: "Maltus war kein Sozialwissenschaftler sondern Ideologie, der ganz klar gegen die Ideen der Französischen Revolution aufgetreten ist". Und Reiter hebt die Bedeutung hervor, die Maltus für Darwin hatte.

Wenn Demographie mit Katastrophen argumentierte, dann griff sie stets auf Malthus zurück. Moderne Demographie will der Sozialwissenschaftler Albert Reiterer daher erst in der Gegenwart sehen. Die Alternative zu Maltus sieht er in der ökonomischen Theorie der Demographie. Sie geht auf die Idee zurück, dass Menschen in Kosten-Nutzen-Relationen denken - auch in großen Zeitbögen. Nur habe sich das in die Demographie noch nicht durchgesprochen, so Reiterer.

Mangelnder Blick für Realitäten

In der Öffentlichkeit wahrgenommen wird Demografie so richtig seit der Jahrtausendwende. Haben es die Bevölkerungswissenschaftler davor nicht verstanden, die Folgen des demografischen Wandels klarzumachen? Herwig Birg, Deutschlands medienwirksamster Bevölkerungswissenschaftler, spielt den Ball an die Politik weiter: Jahrelang seien die demografischen Entwicklungen aufgezeigt worden und jahrelang habe die Politik sie ignoriert. Jetzt lasse es sich nicht mehr ignorieren, weil die Älteren, Kranken und Erwerbslosen von etwas leben müssten. "Ich frage Sie, wie man gestrickt sein muss, um auf solche harten Fakten nicht zu reagieren und mir fehlt darauf jede Antwort", sagt Birg.

Albert Reiterer verfolgte die Diskussion über Fruchtbarkeit, Alterung und Wanderung in den internationalen demografischen Zeitschriften. Warum die Botschaft von der bald kinderlosen Gesellschaft nicht medial breiter geführt wurde?

Themen wie Alterung, Wanderung und Fruchtbarkeit seien in den Fachzeitschriften bereits seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert worden. Ein gebrochener Fortschrittsoptimismus in den 1990er Jahren habe die Gesellschaft empfänglich für diese Themen gemacht, schließt Reiterer.

Der Teufel steckt in den Annahmen

Prognosen sagen also immer auch etwas über die Stimmung in der Gesellschaft zur Zeit ihrer Entstehung aus. Die langen Zeiträume machen die Ergebnisse angreifbar und zugleich auch unangreifbar. Die Ergebnisse einer Modellrechnung für das Jahr 2050 können schließlich erst nachher überprüft werden. Langfristige Prognosen entziehen sich so dem wissenschaftlichen Diskurs und werden, so der Geograf Heinz Fassmann, in gewissem Sinn beliebig und damit auch wieder leicht für demagogische Zwecke missbrauchbar, denn jede Prognose beruhe auf Annahmen und diese Annahmen seien eben eine Mischung aus realer Analyse und wünschenswerten Zuständen.

1948 legte die Kommission für Raumforschung und Wiederaufbau der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eine Bevölkerungsprognose für das Jahr 1975 vor. Die internationale Zuwanderung wurde damals auf Null geschätzt, der Baby-Boom der 1960er Jahre nicht erfasst, ebenso wenig die mit Beginn der 60er Jahre einsetzende Zuwanderung. 1975 hatte Österreich ein Drittel mehr Einwohner als 1948 vorhergesagt. Langfristige Prognosen, folgert Fassmann, hätten Unterhaltungs- und Newswert aber keinen Gebrauchswert für die Politik.

Ja gut, könnte man nun sagen, aber heute verfüge man doch über viel genauere Daten und viel präzisere Rechenmodelle. Entscheidend sei nicht die Mathematik, sondern die Annahmen und das sei heute nicht anders, als 1948.

Und Albert Reiterer, Co-Autor einer Studie über das Wachstum der Weltbevölkerung ergänzt, dass man nicht gleichzeitig vor den ökologischen Folgen der Überbevölkerung warnen könne und gleichzeitig über sinkende Geburtenraten in der eigenen Gesellschaft und den damit verbundenen Machtverlust klagen könne. "Da ist etwas in der Argumentation nicht richtig".

Risiko:dialog ist eine Initiative von Radio Österreich 1 und Umweltbundesamt.

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