Schönheit auf dem zweiten Blick
Schwarzes Meer
Auf ihren ausgedehnten Reisen hat Vanessa Winship die Schwarzmeerregion über Jahre hinweg fotografisch eingefangen. Das Ergebnis sind ausschließlich Schwarz-Weiß-Bilder, die sie auch als Dokumente einer Gesellschaft im Umbruch verstanden wissen will.
8. April 2017, 21:58
"Das Schwarze Meer", schreibt Vanessa Winship, "ist keine Schönheit im klassischen Sinn, vielmehr ist es eine auf den zweiten Blick." Diese Schönheit auf den zweiten Blick findet die britische Fotografin in verwaisten Landstrichen und schäbigen Häfen ebenso wie an bevölkerten Stränden, die sich von adriatischen Urlaubsparadiesen kaum unterscheiden.
Sechs Küstenländer grenzen an das Schwarze Meer: Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Georgien, Russland und die Ukraine. Regionen, die in Zeiten des Ost-West-Konflikts aus dem mitteleuropäischen Blickfeld geraten sind, und Orte, deren Namen uns kaum geläufig sind. In dem einleitenden Text des Bildbandes wird das Schwarze Meer als geopolitischer Zwischenraum verortet, hin- und hergerissen zwischen Europa und Asien, zwischen Westen und Osten.
Die Tempi der Neuorientierung der Staaten sind grundverschieden, und die Bevölkerung des ganzen Raumes ist erfüllt von der leidenschaftlichen Debatte, wohin der Weg sie führt. Nach Westen, wo so lange die Verheißung auf Wohlstand und Frieden lockte, aber die Türen wenig großzügig nur einen Spaltbreit geöffnet sind, aus Sorge, das alte Europa könne sich verheben an den jungen Schwergewichten, die da anklopfen? Nach Osten, wo neue Supermächte erwachsen, die vor allem mit ökonomischen Selbstbewusstsein die Hände ausstrecken? Hier an der Grenze zwischen West und Ost werden Weichen gestellt, die für die halbe Welt bedeutend sind: Öl und Gas und ihre Transportwege werden von argwöhnisch konkurrierenden Weltkonzernen exploriert, den mutmaßlichen Herrschern der Zukunft. Wohin führt also der Weg?
Die Widersprüche sichtbar gemacht
Wohin führt der Weg? Diese Frage kann Vanessa Winship mit ihren Fotografien nicht beantworten. Doch mit dem Blick der Chronistin, die Geschichten dokumentiert und dem Blick der Kartografin, die Orte der Erinnerung vermisst , macht sie - ganz ohne Worte - die Widersprüche sichtbar, die die Schwarzmeerregion prägen.
Sie zeigt die Silhouette eines Buben, der im russischen Noworossisk auf ein sowjetisches Kriegerdenkmal klettert. Im Kontrast zur monumentalen Größe des Bauwerks wirkt sein Körper verschwindend klein. Sie zeigt eine langbeinige Frau im Minikleid, die an einem kaukasischen Bahnhof angekommen ist. Vielleicht ist sie am Weg nach Sotschi, dem beliebtesten Bade- und Kurort des russischen Kaukasus, der mit seinen großzügigen Promenaden und seiner subtropischen Vegetation ein Treffpunkt des neureichen Russlands geworden ist. Sie zeigt eine Gruppe Kopftuch tragender muslimischer Frauen, die auf eines der zahlreichen Wassertaxis Istanbuls warten.
Zwei Strömungen
Sie zeigt auch ein Bild von fast emblematischem Charakter: ein junges Mädchen, das direkt in die Kamera starrt, als wollte sie sich gegen den voyeuristischen Blick, der der Fotografie immer anhaftet, wehren. Sie wirft den Blick des Betrachters zurück. Sie zwingt den Betrachter, sich verschämt abzuwenden. Man fühlt sich ertappt, wird aber immer wieder angezogen von diesem Mädchen, das umringt ist von zahnlosen, alten Frauen in schwarzen Trachten.
Es ist beinahe so, als habe Vanessa Winship mit diesem Bild einen Gedanken formulieren wollen, der sich leitmotivisch durch den gesamten Bildband zieht, den Gedanken nämlich, dass das Eigentümliche der Schwarzmeerregion in seinen Widersprüchen liegt. In der Einleitung wird dieser Gedanke in ein sprachliches Bild gegossen, das allerdings im Gegensatz zum fotografischen Bild, in buchstäblich pathetische Gewässer abzudriften droht:
In der Meerenge des Bosporus gibt es nicht nur eine Strömung, sondern zwei: eine an der Oberfläche, die sich Richtung Westen in die Dardanellen wälzt, und eine weitere tief darunter, die vom Mittelmeer in die Richtung des Schwarzen Meeres verläuft. So wie beide Strömungen, obwohl gegenläufig, sich einander sinnvoll ergänzen, so könnte auch der Widerstreit, der heute das Wesensmerkmal des Schwarzen Meeres ist, sich noch als hilfreich erweisen. Denn im Streit liegt auch Erkenntnis.
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Buch-Tipp
Vanessa Winship, "Schwarzes Meer", aus dem Englischen übersetzt von Karl J. Spurzem, marebuchverlag
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mare.de - Fotos aus "Schwarzes Meer"