Der Bezwinger beider Pole

Amundsen

Tor Bomann-Larsen hat auf einem Dachboden bei Oslo einen Koffer mit Hunderten von Originalbriefen und -dokumenten von Roald Amundsen gefunden, der als erster am Südpol war. Seine Biografie zeigt die schwierige Persönlichkeit des gefeierten Entdeckers.

Roald Amundsen stellt 1903 eine eigene erste eigene Expedition auf die Beine, die Gjöa, das kleinste Polarforschungsschiff aller Zeiten, und dennoch für den Entdecker zu teuer, deshalb sticht er auf der Flucht vor seinen Gläubigern in See. Er ist auf der Suche nach der Nordwestpassage.

Die Mannschaft überwintert zwei Mal in der Inuit-Siedlung Gjöahavn, wo noch heute Nachkommen der Expeditionsteilnehmer leben sollen. Amundsen "studiert" die Kultur der Eskimos, die Mannschaft tauscht Ausrüstungsgegenstände gegen Frauen und schließlich kauft sich der Expeditionsleiter einen kleinen zirka zehn Jahre alten Waisenjungen.

1906 bezwingt Amundsen erstmals die Nordwestpassage. Sein nächstes Ziel ist der Nordpol. Doch der Amerikaner Peary ist schneller: Amundsens ist um sein Lebensziel betrogen. Es gibt nur mehr ein Renommierprojekt: Er belügt alle, sogar seine Mannschaft, der er erst am Weg das eigentliche Ziel mitteilt:

Nein, du meine Güte, was für eine Überraschung! und das innerhalb einer Viertelstunde. Wir gehen nicht zum Nordpol, wir gehen zum Südpol!

Bitterer Beigeschmack

Er ergaunert sich so das Schiff von Fritjov Nansen, der damit eigentlich selbst zum Südpol fahren wollte, er lässt den Rivalen Robert F. Scott bis zuletzt im Ungewissen. Sein Sieg hat einen bitteren Beigeschmack:

Ich kann nicht sagen - obgleich ich weiß, dass es eine viel großartigere Wirkung hätte, - dass ich da vor dem Ziel meines Lebens stand. (...) Die Gegend um den Nordpol - ach ja, zum Kuckuck - der Nordpol selbst hatte es mir von Kindesbeinen an angetan, und nun befand ich mich am Südpol! Kann man sich etwas Entgegengesetzteres denken?

Diese Zeilen liest man leider nicht in der Biografie von Tor Bomann-Larsen, sondern in Amundsens eigenem Bericht "Wettlauf zum Südpol". Man muss sich schon Mühe geben, um die eigentlichen Höhepunkte nicht zu überlesen. Denn aufgrund der Fülle von Briefen, Tagebüchern und Berichten, die allen Details gerecht werden wollen, geht die Spannung des Abenteuers an vielen Stellen verloren.

Interessiert an "primitiven" Völkern

Interessant ist ein Aspekt, der in den autobiografischen Heldenepen, natürlich nicht vorkommt.

Roald Amundsen vermochte für "primitive" Völkerschaften, ihre Lebensweise und ihre Fertigkeiten viel Bewunderung aufzubringen. Er konnte zartfühlend und angetan sein, aber er war auch der unumschränkte Herrscher, Herr über Leben und Tod, ein Eroberer der alten Schule.

Amundsen hat wieder Gelegenheit, die Ureinwohner zu studieren, als er die Nordostpassage durchqueren will und in Nordsibirien überwintert. In Nome lernt er die vierjährige, verwahrloste Kakonita kennen.

Kakonita, meine kleine Pflegetochter, ist mir nun völlig verfallen. Ich glaube, sie liebt ihren Oppa.

Ein zweites Tschuktschenmädchen wird für sie als Spielgefährtin geholt und auf den Namen Camilla getauft. Auch wenn sie aus einem Nomadenvolk Sibiriens stammen, werden sie als Amundsens Eskimomädchen weltberühmt.

Experiment mit Mädchen

Amundsen heckt schon neue Pläne aus. Er will mit einem Flugzeug zum Nordpol. Doch die finanzielle Lage ist katastrophal. Obwohl sein Bruder Leon eigenes Geld nachschießt, muss Amundsen zum Konkursgericht. Ein Skandal. Es kommt zum Bruch mit dem Bruder, und damit auch zur Schicksalswende für die Mädchen, sie müssen zurück. Amundsen emotionslos:

Das war letztlich auch ein Experiment. Sehen Sie, die Leute oben in Nome und jenen Gegenden wollen nicht zugeben, dass Eskimos lernfähig sind. Es ist eine gängige Vorstellung, dass sie nur bis zu einem gewissen Entwicklungsstand gebracht werden können, bis dahin und nicht weiter".

Eine Vorstellung, die Amundsen mit diesem Experiment widerlegt hatte.

Flug zum Nordpol

Der bankrotte Nationalheld kämpft weiter. 1925 hebt Amundsen in die Lüfte ab, er nimmt Kurs auf den Nordpol. Ein amerikanischer Großindustrieller, Multimillionär James Ellsworth, finanziert die Flugexpedition. Sein Sohn fliegt mit. Das Flugzeug erreicht den Pol nicht, es muss vorher notlanden. Die Mannschaft gilt als verschollen. Nach drei Wochen Aufatmen und ein jubelnder Empfang. Ein Drama, das sich vermarkten lässt.

Das Buch über den Polflug kam am Morgen des 8. Oktober um acht Uhr in 10.000 Exemplaren auf den Markt - und war um zwei Uhr Nachmittag ausverkauft und die zweite Auflage in Druck. Das dürfte Rekord sein.

Mit Nobile im Luftschiff

Der nächste Versuch führt Amundsen endlich zu seinem Lebensziel: zum Nordpol. Vom Luftschiff "Norge" aus, das Oberst Umberto Nobile führt, kann er endlich die norwegische Flagge über dem Pol abwerfen. Amundsen sitzt als Gast im Luftschiff. Da er den Erfolg für sich alleine will, kommt es zum Bruch mit Nobile - er schreibt ein skandalöses Buch.

Damit demontiert Amundsen seinen eigenen Ruhm, man zweifelt an seinem Geisteszustand. Als Nobile mit seinem Luftschiff in Spitzbergen aber als verschollen gilt, macht er sich zu einer Rettungsaktion auf - und kommt nicht wieder. Ein Schwede rettet Nobile. Amundsen bleibt verschollen.

Einblick in Beziehungen

Großes Verdienst der Biografie ist ein Einblick in die Beziehungen Amundsens, den großen Beitrag, den sein Bruder Leon am Gelingen der Expeditionen hatte, und die unerfüllten Liebesbeziehungen des Norwegers mit verheirateten Frauen.

Zum anderen darf man sich über Passagen wundern wie die folgende, in der der Autor Kristiania - das heutige Oslo - beschreibt:

Die Stadt lag wie eine feste Ansiedlung irgendwo zwischen der europäischen Zivilisation und primitiven Nomadenvölkern wie Samen, Samojeden und Eskimos.

Besonders verwunderlich ist, dass auf dem Cover der Amundsen-Biografie ein Foto des Erzrivalen Robert Falcon Scott beim verlassenen Zelt der Norweger am Südpol zu sehen ist.

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Buch-Tipp
Tor Bomann-Larsen, "Amundsen. Bezwinger beider Pole", aus dem Norwegischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, marebuchverlag

Link
marebuchverlag - "Amundsen"