40 Jahre 68er-Generation

Eine Lanze für die 68er

Ich bin kein 68er, dafür bin ich zu jung. Woodstock kenne ich nur von den Plattenaufnahmen, die dort entstanden, den Pariser Mai-Aufstand nur von Filmdokumenten. Ich bin also unverdächtig, wenn ich hier eine Lanze für 68er breche.

Wir schreiben ja gerade das Jahr 2007, aber nicht mehr lang. Bedeutet: Demnächst haben wir 2008. Und das wiederum heißt: 40 Jahre 68.

Solche Jubiläen werfen ihre Schatten voraus, und als erstes naturgemäß auf das Cover des renommiertesten Nachrichtenmagazins deutscher Sprache, des "Spiegel".

"Gnade für die 68er - Nicht alles war schlecht", titelte das Blatt schon vor zwei Wochen. Das ist wahrlich flink. Und sachlich trifft die Schlagzeile ohnehin ins Schwarze: Die 68 sind fraglos die übelst beleumundete Generation der Menschheitsgeschichte.

Es begann ja schon mit ihren Eltern, die den 68ern jenes amerikanische "Negergegröhle" verübelten, das sie sich anhörten, von diesen, den Söhnen und Töchtern, Rockmusik genannt, von jenen, den Eltern, aber meist als "Katzengschroa" empfunden. Dabei handelte es sich, wohlgemerkt, um die munteren Lieder der Beatles oder die düster-melancholischen Balladen der Rolling Stones - allesamt heute "Evergreens". Was die 68er so lasen, blieb ihren Eltern ja meist verborgen, weil das Lesen von Büchern kaum Lärm erzeugt. Aber Goethe und Schiller waren das nicht, und davon abweichende Lektüre wurde von Deutschlehrern und Pressekolumnisten damals als Beihilfe zum Untergang des Abendlandes angesehen.

Ganz und gar unbeliebt machten sich die 68er bei ihren Vorgängern schließlich mit der "sexuellen Revolution", sprich der Aussöhnung des abendländischen Über-Ichs mit dem außerehelichen Geschlechtsverkehr. Ich meine, nicht dass der vorher nicht vorgekommen wäre, wie ich zumindest vermute, aber es galt halt als unschicklich und keinesfalls als öffentlich erwähnbar. Faktisch wurde ein Kuss in einem Roman ja schon als pornographisch angesehen.

Nun könnte man meinen, die 68er hätten mit diesen Innovationen und Errungenschaften immerhin bei nachfolgenden Generationen gepunktet, die ja bis heute sehr davon profitieren. Welcher junge Mann, welche junge Frau kann sich noch vorstellen, für den Umgang mit dem jeweils anderen brauche man erst den Segen der Kirche?

Doch weit gefehlt. Die Jungen werfen den 68ern heute erst recht moralische Verkommenheit und intellektuelle Degeneration vor. Hatten die 68er noch für eine gerechtere Welt plädiert und waren dafür sogar demonstrieren gegangen, so wussten ihre Kinder, die "Dinks", spätestens in den 90ern, dass einzig "double income - no kids" zählt. Und demonstrierten folgerichtig für ihr "right to party". Naja, auch ein Recht, ohne Frage.

Überhaupt, die Politik. Verübeln die einen den 68ern heute noch die widerstandslose Übernahme amerikanischen Life-Styles und amerikanischer kultureller Eigenheiten, so etwa des Trinkens von Cola-Getränken (ich nenne jetzt keine Firmennamen) statt des bewährten deutschen Sprudels, so wird der ominösen Generation von anderen wieder blinder Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Die einen meinen, die 68er hätten mit ihrem Revoluzzertum das Ende der europäischen Zivilisation eingeläutet, die anderen halten ihren "Marsch durch die Institutionen" für opportunistisch, selbstsüchtig und reaktionär. Die 68er konnten es wahrlich niemandem recht machen.

Und dann erst ihre gebatikten T-Shirts. Mit diesen liebevoll handgefertigten, bunten Kleidungsstücken, mit ihren langen Haaren und ihren Holzperlenketten sitzen die 68er endgültig zwischen allen Stühlen. Die wurden ihnen weder von ihren Eltern noch werden sie ihnen von ihren Kindern und Enkeln verziehen. Für alle Generationen gelten die vollbärtigen, Sandalen tragenden 68er als Inbegriff der Verwahrlosung, als Apologeten des schlechten Geschmacks.

Ich selbst bin ja nicht wirklich ein 68er, dafür bin ich zu jung. Allenfalls auf zarten Kinderbeinen wackelte ich im denkwürdigen Jahr durch die Welt. Ich bin also unverdächtig, der ungeliebten Generation aus bloßem Eigennutz zur Seite zu springen.

So kann ich ruhigen Gewissens sagen: Man tut ihnen unrecht. Manches war ja vielleicht übertrieben, aber nüchtern betrachtet, haben die 68er doch einiges geleistet. Den belastungsfreieren Sex erwähnte ich schon. Über den "Dresscode" der 68er mag man lächeln, aber dass man als Mann überhaupt jenseits von Anzug und Krawatte die Wohnung verlassen kann, verdanken wir den 68ern. Die Jean, heute ein reputiertes Kleidungsstück bis in höchste Gesellschaftskreise, ist faktisch eine Erfindung der 68er.

Wenn die Jungen heute gegen den Krieg und das Elend in der Welt protestieren, dann kupfern sie das eins zu eins bei den 68ern ab: Auf solche Ideen ist man vorher gar nicht gekommen. Nicht zuletzt haben die 68er sowohl die Disco wie auch die Stereoanlage erst erfunden, und damit das kulturelle Leben, wie ich meine, durchaus bereichert. - Diese Liste ist natürlich unvollständig.

Es ist an der Zeit, den 68ern Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Vielleicht gibt ihr 40er dazu Gelegenheit.

Link
Spiegel online - Blick zurück auf 68