Ein Serienkiller im Bayern 1939
Kalteis
Nach ihrem Erstling "Tannöd" hat Andrea Maria Schenkel wieder einen Kriminalroman geschrieben, der auf wahren Tatsachen beruht. Er ist kein billig voyeuristisches Serienkillerporträt, sondern literarisch durchaus ansprechend und anspruchsvoll.
8. April 2017, 21:58
Eigentlich ist das der Stoff, aus dem der Boulevardjournalismus, dieses zeitlose Phänomen der öffentlichgeilen Niedertracht, die Alpträume der Massen fabriziert und damit die Kassen der Verleger kräftig klingeln lässt:
Der "Schrecken des Münchner Westens"
In München treibt ein Serienvergewaltiger und Frauenmörder mit nekrophil-fetischistischer Veranlagung sein Unwesen. 90 Vergewaltigungen und fünf Morde gehen letztlich auf das Konto dieses "Schreckens des Münchner Westens", wie er genannt wird. Als der Schrecken sein Ende findet, und der Eisenbahner Josef Eichhorn in einem Schnellverfahren verurteilt und hingerichtet wird, ist es aber erstaunlich still in der bayrischen Medienlandschaft.
Wir schreiben das Jahr 1939, und was es nicht geben darf, das gibt es auch nicht im nationalsozialistischen Regime und in der deutschen Volksgemeinschaft: ein NSDAP-Mitglied als Triebtäter; ein Volksgenosse, der im Heimatland die Mädchen und Frauen bestialisch mordet, während die Männer und Jungen gerade zum großen Morden an die Front ziehen.
Kein "true crime"
Statt der Presse von damals hat sich nun Andrea Maria Schenkel, die bayerische Bestsellerautorin von heute, dieses zeit- und kriminalgeschichtlichen Stoffs angenommen, und daraus ein beeindruckendes Stück Kriminalliteratur gezimmert. Kein billig voyeuristisches Serienkillerporträt sondern ein literarisch durchaus ansprechendes und anspruchsvolles Buch ist dieser 150 Seiten starke Roman mit dem Titel "Kalteis".
Josef Kalteis, so heißt bei Schenkel der mutmaßliche Mörder, und wenn auch die grausame Handlung des Romans im großen und ganzen der grausamen Historie entsprechen mag, "Kalteis" ist Literatur, keine Dokumentation und auch kein "true crime", keine Boulevardgeschichte aus der Regalecke "Wahre Verbrechen". "Kalteis" ist ein guter Krimi mit kleinen stilistischen Schwächen, über die noch zu reden sein wird; und es ist auch gut, dass dieser Krimi - übrigens gemeinsam mit Schenkels Erstling "Tannöd" - die deutschen Bestsellerlisten besetzt und so die Dominanz der meist angloamerikanischen Fabriksware im Genre zumindest eine Zeitlang stört.
Authentische Milieuschilderung
Was man schon aus "Tannöd", dieser rätselhaften Mordsgeschichte auf einem oberbayrischen Bauernhof kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kennt, das ist auch in "Kalteis" wieder reichlich vorhanden: die verschiedenen Erzählperspektiven, das Einfügen dokumentarischer Ebenen - hier sind es nachgedichtete Polizei- und Verhörprotokolle -, die Prosa der Stummelsätze, wie sie weiland ein Wolfgang Koeppen mit selbstverständlich anderen literarischen Ansprüchen auch in deutschen Landen salonfähig gemacht hat, und schließlich und vor allem das, worin Andrea Maria Schenkels wahre Meisterschaft besteht: die scheinbar mühelose Herstellung und Schilderung authentischer Milieus, sei es am bayerischen Land oder in der Bier- und Volkserhebungsmetropole München, zu der die Nazis das frühere Zentrum der Nachkriegsrevolution und der künstlerischen Boheme degradieren.
Vorschauen und Rückblenden
Ganz unten ist sie, die Kathie, die da vom Bauernhof in die Stadt kommt, und hier ganz hoch hinaus will. Statt sich als feine Dame zu entpuppen, verkommt sie zur Gelegenheitsprostituierten am Oktoberfest und in den üblen Kaschemmen der Münchner Halb- und Unterwelt. Noch sind die Nazis nicht an der Macht, sie steigen gerade auf, während die Kathie immer weiter absteigt, und – so viel darf schon verraten werden – zum ersten Opfer des "Schreckens des Münchner Westens" wird.
Nicht nur einmal denkt man beim Lesen dieser Geschichte an Ödön von Horváth und seine "Fräuleinsdramen" im Gefolge der Weltwirtschaftskrise. Und das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Rund um die Kathie und deren Abstieg erzählt Schenkel jedenfalls ihre Version des historischen Kriminalfalls, spinnt ihr Netz aus Vorschauen und Rückblenden, aus Protokollen und Introspektionen, von Opfer und Täter.
Wohlkalkulierte Blutrünstigkeit
Bei der Introspektion, bei der Psychologie und beim Innenleben ihrer Figuren, beginnen auch die Probleme der sonst so gewieften und stilsicheren Autorin. Dass der seine Opfer mit dem Fahrrad verfolgende Täter – übrigens: eine interessante Parallele zum oberösterreichischen Frauenmörder der 1950er Jahre, Engleder, und vielleicht auch einmal eine akademische Untersuchung über das Fahrrad in der Kriminalistik und in der Kriminalliteratur wert - , dass also Kalteis alias Eichhorn einmal als tollwütiger Fuchs charakterisiert und ein von ihm überfallenes, gerade noch mit dem Leben davongekommenes Mädchen als "zerrupftes", aus dem Nest gefallenes "Vögelchen" beschrieben wird, mag ja noch angehen, aber sonst ist einiges doch eher platt, wenn es ums "Seelenleben" geht. Seelen sprechen nun mal nicht, und ob Mordopfer ihre letzten Atemzüge selbst kommentieren müssen, das bleibe - trotz der Gesetzmäßigkeiten der Rollenprosa - einmal dahingestellt.
Aber: Das sind kleinere Schwächen in einer ansonsten doch überzeugenden Kriminal- und Sozialgeschichte, der es diesmal auch nicht an wohldosierter und kalkulierter Blutrünstigkeit mangelt. Jene Verhörszene, in der Kalteis über seine Lust am Sauschlachten fabuliert, hat in ihrer Genauigkeit etwas höchst Beklemmendes, das einen unweigerlich an Götz George im Film "Der Totmacher" erinnert. Da ging es auch um einen deutschen Triebtäter zu Zeiten der Weimarer Republik, Haarmann hieß der Knabenmörder und Kannibale. Dass aber das Sauschlachten unweigerlich zum Menschenschlachten führe, das gehört wieder in die Abteilung Psychologie, in der Andrea Maria Schenkel eben nicht zu Hause ist. Auch wenn die eine, detaillierte Szene eines Frauenmordes mit anschließender Verstümmelung das sein mag, was man eine heftige Horror-Show nennt, und was man sich nach "Tannöd", dem eher gewaltarmen Krimi-Erstling nicht erwartet hätte.
Die Autorin selbst hält "Kalteis" übrigens für ihren besseren, bedeutenderen Roman; die Kriminalliteraturkritik zeigt sich in dieser Frage gespalten und fragte man mich, so sagte ich: selbst entscheiden! Beide Bücher, "Kalteis" wie "Tannöd", sind lieferbar, sind nicht zu dick, und man hat sich - das kann ich garantieren - schon mit weit schlechteren Krimischwarten die Zeit totgeschlagen.
Hör-Tipp
Ex libris, Neue Krimis, Sonntag, 9. Dezember 2007, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Andrea Maria Schenkel, "Kalteis", Edition Nautilus