Schwierige Kinder in Schwierigkeiten

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

In der Versorgung psychiatrisch kranker Kinder und Jugendlicher mangelt es an vielem: Es gibt kaum Kinder- und Jugendpsychiater, viel zu wenige ambulante Behandlungsmöglichkeiten und zu wenig Spitalsbetten. Trotz steigenden Bedarfs.

Kinder- und Jugendpsychiater Peter Machovetz

Die Mütter von Laura und Kevin sprechen zum ersten Mal in ein Mikrofon. Sie sind nervös und hätten am liebsten, dass jemand anderer für sie redet. Doch es sind sie, die Mütter, die den Mangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am meisten zu spüren bekommen.

Sie leiden mit ihren Kindern und sie sind erschöpft vom täglichen Kampf. Und so überwinden sie sich letztlich, weil sie das Mikrofon - die Öffentlichkeit - als letzten Strohhalm sehen. Warum muss man in einem Land wie Österreich, in einer Metropole wie Wien eigentlich "kämpfen", um geeignete Hilfe für sein psychisch krankes Kind zu erhalten?

Kevin allein im Spital

Kevin ist 13, aber wohnt nicht zuhause. Seit eineinhalb Jahren wohnt er im Krankenhaus; weil er manchmal solche Wutausbrüche hat, dass nur mehrere Personen ihn bändigen können. Deshalb kann er weder zuhause wohnen noch traut sich eine sozialpädagoische WG der Jugendwohlfahrt zu, ihn zu betreuen.

Seine Mutter zeigt mir gerührt ein Foto von Kevin: konzentriert bastelt er ein Geschenk für sie. Es ist ein stark übergewichtiger Bub. "Das kommt von den Medikamenten", sagt die Mutter. "Im Spital braucht er mehr Ruhigstellungsmittel als er in einem anderen Umfeld benötigen würde", gibt auch der Arzt zu.

Kevin hat viel durchgemacht in seinem jungen Leben, wurde mehrfach traumatisiert. Was er am dringendsten bräuchte, wäre ein überschaubares Umfeld mit stabilen Bezugspersonen, so ziemlich das Gegenteil eines Krankenhauses. Doch Wien hat kein entsprechendes Angebot.

Laura allein zu Hause

Laura ist beim Interview ihrer Mutter dabei. Sie verkleidet sich als Prinzessin, singt, hüpft, tanzt, will mitreden. Die Neunjährige wurde von der Schule suspendiert, da sie andere Kinder immer wieder schlug, kratzte, sogar auf die Strasse stieß. Die alleinerziehende Mutter sitzt nun mit ihrer Tochter zuhause, sie muss befürchten, ihre Arbeit und damit Existenzsicherung zu verlieren.

Vor eineinhalb Jahren hat Laura ihren Vater zum ersten Mal gesehen. Zufälligerweise, auf der Strasse. Seither trifft sie ihn ab und zu im Besuchscafe der Jugendwohlfahrt. Es scheint in ihr zu arbeiten, aber sie redet mit niemandem darüber. Die Medikamente, die sie gegen ihre Epilepsie nimmt, verstärken ihr aggressives Verhalten. Die Ärzte im AKH raten zu stationärer Aufnahme, bedauern aber gleichzeitig, dass kein Bett frei sei.

Keine kleinen Erwachsenen

Kinder und Jugendliche können wie Erwachsene an Depressionen leiden und Suizidgedanken haben. Sie sind geplagt von Essstörungen und Ängsten. Posttraumatische Störungen infolge von Trennungserlebnisse, Gewalt und Misshandlung lassen sie sozial auffällig werden, sich selbst und andere verletzen.

Behandelt wurden sie bisher - vor allem am Land - sehr oft von Pädiatern ohne Kenntnisse der Psychiatrie oder von Erwachsenenpsychiatern als wären sie nur kleingewachsene Volljährige - weil es eben viel zu wenig adäquate und spezifische Angebote gab.

Eigene Psychiatrie wäre notwendig

Viel zu wenig ernst genommen wurde offenbar, dass Kinder und Jugendliche völlig andere Voraussetzungen mitbringen, dass sie sich in Entwicklung befinden und daher eine eigene Psychiatrie benötigen.

Dies steht in auffälligem Kontrast zu Entdeckung der spezifischen Bedürfnisse "unserer lieben Kleinen" in der Welt des Konsums: Vom Pausensnack über den Autositz bis zur Klostiege scheint man den Kindern großen Schaden anzutun, wenn man ihnen normale Erwachsenenprodukte zumuten würde.

In den Kinderschuhen

Seit Februar 2007 gibt es zwar das lange geforderte Sonderfach Kinder- und Jugendpsychiatrie, bis die Fachärzte fertig ausgebildet und einsatzbereit sind, werden aber noch sechs bis acht Jahre vergehen.

Bei einer großen Pressekonfernez der Stadt Wien, bei der "alle relevanten Akteure" am Podium saßen, beschwor man demonstrativ die Einigkeit zum Wohle der Kinder und präsentierte konkrete Vorhaben zur Verbesserung der Situation. Insbesonders das von den Interviewpartnern und anderen Kennern der "Szene" Off Records Geäußerte bestätigte den Eindruck, dass die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien bisher nicht nur durch politische Untätigkeit gebremst wurde, sondern auch durch Kompetenzstreitigkeiten, Schuldzuweisungen, Missgunst, gegenseitigem Unverständnis und persönlichen Eitelkeiten unter den fachlich Verantwortlichen.

Und wie bei jedem Beitrag, in dem man Missstände aufzeigt, trifft man neben den starken Müttern auch auf engagierte Helfer, in dem Fall Ärzte, die ihre beruflichen Kompetenzen - Gott sei Dank - überschreiten und an ihre persönlichen Grenzen gehen - tatsächlich zum Wohle der Kinder.