Technologie, Kommunikation und Entfremdung
Laurie Anderson
Allerlei Paranoides, Bedrohliches und Verführerisches tummelt sich in Laurie Andersons achtstündiger multimedialer "talking opera" namens "United States", knochentrocken in Musik gesetzt und hingebungsvoll erzählt von der Autorin selbst.
8. April 2017, 21:58
Würde man die Bibel genau lesen - so verkünde eine amerikanische Sekte, erzählt uns Laurie Anderson - ihrerseits Künstlerin, Musikerin und vor allem Geschichtenerzählerin seit den 1980er Jahren - singend, dann wäre klar, dass Noah mit seiner Arche mehrere tausend Meilen westlich vom Berg Arafat aufgebrochen sein muss, letztlich also in Upstate New York. Der Garten Eden wäre dann New York City.
Nun gäbe es aber gerade hier keinerlei Hinweise auf vorsintflutliche zivilisatorische Spuren. Man müsse daher also - das ist die plausible Schlussfolgerung - davon ausgehen, dass die Große Flut erst noch bevorsteht.
Live-Mitschnitt als LP-Box
Das ist der Inhalt der Eröffnungssequenz ihrer zwei Abende füllenden, beziehungsweise zehn Schallplattenseiten langen multimedialen "talking opera" mit dem Titel "United States". Allerlei Paranoides, Bedrohliches, aber auch Verführerisches, Ironisches ist da zu finden, knochentrocken in Musik gesetzt und hingebungsvoll erzählt von der Autorin selbst, als Live-Mitschnitt veröffentlicht 1984.
Es geht um Gesellschaftskritik im großen Stil zwischen Technologie und Kapitalismus, aber Laurie Anderson bündelt diese großen Themen am liebsten in Ein-Satz-Pointen. Beispielsweise: Ein kurzer Exkurs zur amerikanischen Form des Lässig-den-Arm-Hebens zwecks "Say Hello" und "Say Good-Bye"; man sieht als Videoprojektion diese berühmte Paar-Abbildung, die in den Weltraum geschickt wurde, und die Tatsache, dass der Mann mit erhobener Hand grüßend, die Frau aber passiv neben ihm stehend abgebildet wurde, kommentiert Laurie Anderson mit modulierter Stimme: "Glauben Sie, dass die Außerirdischen glauben werden, sein Arm sei in dieser Stellung permanent fixiert?"
Massenet-Zitat
"O Superman" wurde damals wohl zur Überraschung aller zum großen Hit von Laurie Anderson. Auch dieses Lied ist eine Paraphrase auf Technologie, Kommunikation und Entfremdung: Die damals so typischen Anrufbeantworterphrasen - "Hi, I’m not home right now" - prägen den Text. Und manch Rätsel löst sich erst beim zweiten Mal Hinhören auf: “O Superman, O Judge, o mom and dad.”
Die kunstvoll darin versteckte Gesellschaftskritik: Eine Phrase aus einer Jules-Massenet-Oper verweist auf den farbigen und deswegen lange Zeit in seiner Karriere behinderte Tenor Charles Holland: Im Opernoriginal heißt es "O Souverain / o juge / o père", und bei Laurie Anderson wird daraus, “O Superman, O Judge, o mom and dad.”
Auftritte in Galerien
Biographisches: Laurie Anderson graduierte magna cum laude und trieb sich dann in den 1970er Jahren in den wilden New Yorker Kunstkreisen herum und trat mit ihren Performances vornehmlich in Galerien auf. Sie entwickelte eine Geige, die statt Saiten einen Tonkopf hatte und deren Bogen statt mit Haaren mit einem bespielten Tonband bespannt war, um damit eine Art performatives Sampling auf die Bühne zu bringen.
Sie veröffentlichte ihre ersten Songs bezeichnenderweise für Juke Boxes in Kunstinstallationen. Ihre Kompagnons damals waren John Giorno, William S. Bourroughs, John Cage, Allen Ginsberg und andere. Erst im Anschluss wurde sie zum coolen Popstar der 1980er Jahre. Aber immer meinte sie über sich selbst: "Basically I’m a story-teller".
Hör-Tipp
Spielräume, Sonntag, 16. Dezember 2007, 17:30 Uhr
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Laurie Anderson