Tahar Ben Jelloun erinnert sich

Der weite Weg zurück

Der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun, Jahrgang 1944, erinnert sich an seine Kindheit in Fés, den Respekt, den man den Eltern entgegenbrachte, an die Zeit im marokkanischen Disziplinierungslager, und an die spätere Karriere als Schriftsteller.

Tahar Ben Jelloun, 1944 in Fès geboren, lebt in Paris und Tanger. Er gilt als bedeutendster Vertreter der französischen Literatur des Maghreb. 1966, im Alter von 22 Jahren wird er wegen der Teilnahme an einer Studentenrevolte gegen den marokkanischen König Hassan II., der die linke Opposition verfolgte und ins Exil trieb, für 18 Monate in ein Straflager versetzt.

Aus dieser Zeit stammen die ersten Texte Tahar Ben Jellouns, es sind Gedichte in französischer Sprache. 1971 emigriert er nach Frankreich. Von Anfang an kommentiert er als Journalist die ambivalente Haltung, die seine Wahlheimat zu den Einwanderern pflegt und er analysiert das vielschichtige Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Als Autor lotet er in Romanen, Erzählungen und Gedichten die ganze Tiefe der maghrebinischen Kultur aus. 1987 wird er für seinen Roman "Die Nacht der Unschuld" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Über seine Kindheit

"Es gab damals überhaupt keinen Komfort, ich bin in einer sehr einfachen Familie aufgewachsen", erinnert sich Jelloun. "Wenn ich mir heutige Küchen ansehe, die sind so sauber, alles ist praktisch eingerichtet. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter unser Essen noch auf einem Kohlenofen zubereitet hat, den Geruch von glühender Kohle habe ich heute noch in der Nase. Später hatten wir einen Ölofen, ich kann mich gut daran erinnern, wie meine Mutter versucht hat, den verstopften Ölkanal zu reinigen. Nicht lustig, unter solchen Bedingungen zu kochen.

Ich hatte kein eigenes Zimmer, aber ich habe mir meinen eigenen Raum im Haus geschaffen, indem ich ein Papier und einen Stift nahm, um zu zeichnen. Ich fertigte realistische Bilder an, zeichnete den Bäcker, meinen Vater. Manchmal hab ich ein paar Zeilen unter die Bilder geschrieben. Ich spielte nicht auf der Straße. Für die meisten Kinder in Fés war es der Aufenthaltsort. Für mich nicht."

Über das Schreiben

"Als ich jung war, hatte ich keine Ambitionen, Schriftsteller zu werden. Ich wurde es mehr oder weniger zufällig. Doch als ich in diesem Genre meine Stimme gefunden hatte, wurde Schreiben für mich so etwas wie Lebensrettung. Man kann das mit dem Mädchen Sheherazade aus 1000 und einer Nacht vergleichen, die Geschichten erzählt, um dem Tod zu entkommen. Literatur hat mich am Leben erhalten. Ich denke, die wirkliche Antriebskraft für einen Autor ist nicht Zufriedenheit, sondern Verzweiflung."

Über seinen Alltag als Schriftsteller

"Ich stehe früh auf, um acht Uhr, dann bin ich um 8.30 im Büro, ich verlasse es nicht vor Mittag. Am Nachmittag arbeite ich weniger, ich lese, sehe mir Filme an, oder treffe jemanden. Der Morgen ist sozusagen heilig, am Nachmittag pflege ich meine sozialen Kontakte, am Abend lese ich. Nachts schreibe ich nie."

Über König Mohammed VI.

"Mohammed VI. hat fundamentale Veränderungen in Marokko bewirkt. Das Land befindet sich definitiv auf dem Weg zur Demokratie. Der König hat das Familienrecht liberalisiert, er hat Einsicht in die Akten gewährt, die aus der Regierungszeit seines Vaters, Hassan II. stammen. Er hat eine unabhängige nationale Kommission für Gleichheit und Versöhnung eingesetzt, die sich mit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen aus dieser Periode befasst. Es fanden öffentliche Anhörungen ehemaliger Gefangener statt, die Hassan II. einsperren ließ.

In Marokko gibt es keine politischen Gefangenen mehr, es herrscht Presse- und Redefreiheit. Natürlich gibt es nach wie vor Tabus: Man darf den König nicht kritisieren, auch nicht den Islam. Marokko ist jenes arabische Land, das den größten Fortschritt hat. Es braucht allerdings auch wirtschaftliche Hilfe, um Armut und Korruption zu bekämpfen, die nach wie vor existieren."

Über das Alter

"Es ist sowieso nicht lustig zu altern. In keinem Land. Aber in der marokkanischen Gesellschaft betrachtet man das Alter gelassener. Es entspricht auch mehr dem fatalistischen Denken in Marokko. "Man zweifelt nicht am Werk Gottes", sagte mein Vater immer. Der Verlust der Jugend ist nicht so negativ besetzt wie in Europa, wo das Altern fast wie eine Krankheit betrachtet wird. Die Menschen in Marokko hadern nicht mit ihren Falten, mit dem langsamen Verlust von Fähigkeiten. Sie erheben nicht den Anspruch, anders zu sein, als sie tatsächlich sind. Die Frauen in Marokko mit ihren Tausenden kleinen Linien im Gesicht sehen wunderschön aus, sie kämen nicht auf den Gedanken, sich ihrer zu schämen."