David Röthler über neue TV-Kulturen
Fernsehen war gestern
Wer das Internet nutzt, sieht weniger fern. Die menschliche Aufmerksamkeit lässt nur in seltenen Fällen den gleichzeitigen Konsum mehrerer Medien zu. Jedes neue Medium wird somit zur Konkurrenz der alten Medien. Verdrängt das Internet das Fernsehen?
8. April 2017, 21:58
Eine aktuelle deutsche Studie kommt zu dem Ergebnis, dass über die Hälfte der Onlinenutzer, nämlich 61 Prozent der Befragten, lieber auf das Fernsehen als auf das Internet verzichten würden, sollten sie sich für eines von beidem entscheiden müssen. Vor einem halben Jahr lag dieser Wert noch bei 56 Prozent. Die Verdrängung des klassischen Fernsehens durch das Internet wird sich mit der wachsenden Verbreitung von Video-Inhalten über das Internet noch rascher fortsetzen.
Mit dem Video-Boom im Internet haben sich die zahlreichen Optionen, die es bereits seit der Einführung des Satelliten- und Kabelfernsehens in den letzten 20 Jahren mit seinen hunderten Kanälen gibt, vervielfacht. Auf die Videoplattform Youtube laden die Nutzer alle 24 Stunden die fast unglaubliche Menge von 11.520 Stunden (480 Tage) Videocontent. Bei einem Marktanteil von 45 Prozent im Bereich Onlinevideo werden täglich 100 Millionen Videoclips angesehen.
Mit dem Internet wird der Konsum von Videoinhalten völlig unabhängig von Ort und Zeit. Videopodcasts lassen sich auf das Mobiltelefon oder den Video-iPod laden und unterwegs ansehen. Wie sich dagegen das knapp vor der Markteinführung stehende DVB-H, der digitale TV-Empfang auf Mobiltelefonen durchsetzen wird, der nicht über die Möglichkeit des zeitversetzten Empfangs verfügt, bleibt eine offene Frage.
Darüber hinaus erlaubt der Rückkanal des Internet die Interaktion der Nutzer mit den Programmgestaltern. In den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es noch archaisch anmutende Versuche, das Fernsehen interaktiv zu machen. In TV-Shows wurde das Publikum aufgefordert, Zustimmung oder Ablehnung mit dem Ein- bzw. Ausschalten der Beleuchtung kundzutun. Die jeweiligen Auswirkungen wurden dann von den Elektrizitätswerken gemessen.
Die Interaktivität des Internet macht heute aus Zusehern Produzenten ihrer eigenen Inhalte. User Generated Content wird zum Katalysator der neuen TV-Kultur und verwischt die klare Trennung zwischen Konsumenten und Produzenten. Neue Video-Dienste, wie kyte.tv, die im Webbrowser mit einer 15 Euro Webcam genauso wie vom Mobiltelefon mit Kamera funktionieren, versprechen, dass "du mit kyte alle deine Erfahrungen und Erlebnisse mit der ganzen Welt teilen und auf deinem Channel der Star, Direktor und der Produzent gleichzeitig sein kannst, egal wo du gerade bist."
Die mobile Video-Produktion führt zu neuen kreativen Formaten, Vernetzung und Kommunikation. Eine besonders experimentelle Form mobiler Videoproduktion ist das sogenannte Lifecasting. Dabei wird möglichst 24 Stunden täglich live das persönliche Leben ins Internet übertragen. Der Lifecaster Ronald Lewis beschreibt seine Motivation folgendermaßen: “This lifecast serves as the live component of my everyday digital lifestyle in Denver, Colorado and beyond. It's an experiment to learn, … create new relationships, discover new opportunities and more without limits or boundaries.“
Das politische Konzept des Lifecasting nennt sich "Sousveillance" (Wachsamkeit von unten). Es soll ein Gleichgewicht zwischen der "Surveillance" des Staates und den Überwachten herstellen. Beispielsweise beobachten Bürger in den USA das Verhalten der Polizei (Copwatching) und machen Aufnahmen mit Handykameras.
Auch immer mehr TV-Inhalte sind über das Internet anzusehen. Die Mediathek des ZDF streamt zahlreiche interessante Sendungen per Internet auf die Computer-Bildschirme. Selbst die neue technische Qualität des hochauflösenden Bewegtbildes scheint sich im Internet rascher zu verbreiten als über herkömmliche Fernsehschirme. Der Miro-Player der Participatory Culture Foundation bietet eine fast unglaubliche - aber gut strukturierte - Vielfalt an aktuellem Video-Content aus der ganzen Welt, wobei ein Teil davon in HD-Qualität sowie "user-generated" erhältlich ist.
David Röthler ist Berater und Autor zum Thema "Neue Internetanwendungen" in Salzburg
Links
W3B - Internet-Meinungsumfrage zum Konkurrenzverhältnis Internet/TV
politik.netzkompetenz.at - Weblog, David Röthler
Kyte.tv
Miro-Player
Lifecast von Ronald Lewis
ZDF - Mediathek