Diskussion um Sterbehilfe

Die Erlöser AG

Björn Kern, 1978 in Süddeutschland geborener Wahlberliner, ist trotz erst dreier veröffentlichter Romane schon einer der umstritteneren deutschen Gegenwartsautoren. In seinem neuen, manchmal recht drastischen Roman geht es um Sterbehilfe.

Berlin war leerer denn je. Auf den Straßen fuhren fast nur Krankentransporte, auf den Gehsteigen humpelte man seinen Gehböcken hinterher, Speichel tropfte, Gebisse malmten.

Deutschland nach ein paar weiteren Jahrzehnten des Geburtenrückgangs einerseits, der Fortschritte in der Medizin andererseits: In Berlin leben mehr 90- als 20-Jährige, werden mehr altersschwache Patienten gefüttert als Babys. Die einst pulsierende Stadt ist zu einem riesigen Altenghetto geworden. In dieser Zukunft siedelt Björn Kern eine makaber-skurrile Vision an, eine Groteske mit, das vorweg, sehr ernstem Hintergrund.

Kungebein stolperte über zwei wächserne Beine, die im Nieselregen auf dem Gehsteig lagen. Immer wieder schafften es Alte und Demente nicht mehr in ihre Sozialstation und blieben irgendwo liegen. Kungebein blickte auf den Körper zu seinen Füßen. Eine Frau lag da, abgemagert, vielleicht 90 Jahre alt. Die Greisin kaute auf ihrer Unterlippe. Kungebein hastete weiter. Die Altenstreife würde die Frau auflesen.

Agentur für ein schnelles Ende

In dieser Situation beschließt das deutsche Parlament die ersatzlose Streichung des Paragraphen 216 Strafgesetzbuch. Inhalt: Die Tötung eines Menschen ist ein Verbrechen, auch wenn sie auf dessen ausdrückliches Verlangen hin erfolgt. Mit der Abschaffung ist ab sofort aktive Sterbehilfe wie auch Beihilfe zum Selbstmord erlaubt.

Auf der tumultartig verlaufenden Pressekonferenz, in der die Entscheidung verlautbart wird, lernen einander der renommierte Arzt Hendrik Miller und der ambitionierte Jung-Journalist Paul Kungebein kennen. Die beiden beschließen, "Nägel mit Köpfen zu machen": Sie gründen eine Agentur, die Todkranken ein schnelles und schmerzloses Ende verspricht.

250 Buchseiten später ist, kurz zusammengefasst, die Neugründung zu einem florierenden Unternehmen aufgestiegen, und ihr ehrgeiziger, aber recht neurotischer Geschäftsführer Paul Kungebein zu einem gefragten Gast in Fernseh-Talkshows.

Boomendes Gewerbe

Dazwischen gab's auch Rückschläge. So saß Paul sogar für eine Nacht in Untersuchungshaft, weil er und sein ärztlicher Partner bei einer Klientin die gesetzliche Anforderung eines ausdrücklichen Sterbewunsches allzu locker genommen hätten. - Eine Verleumdung, wie sich herausstellt, eine Intrige von Gegnern der neuen Regelungen.

Den Erfolg von Pauls Agentur konnte das alles aber nicht bremsen. Als besondere Finesse hat Autor Björn Kern dem umtriebigen Sterbehelfer auch noch selbst einen schwer Alzheimer-kranken Vater verpasst.

Ernstes Thema, witzig geschrieben

Björn Kerns Roman ist flott geschrieben und dank eines flüssig-professionellen Stils, auch dank zahlreicher, manchmal schon schreiend-grotesker Szenen auch flott zu lesen. Ästhetisch ambitioniert ist er nicht, darum geht's dem Autor offenbar nicht. Björn Kern geht es um sein Thema, das er in scheinbarem Gegensatz zu manchen Skurrilitäten absolut ernst nimmt.

Auf 250 Buchseiten handelt Kern die Frage "Sterbehilfe" in Romanform ab, die Aspekte, die für und gegen solche Regelungen sprechen: das Recht des Menschen auf einen würdevollen Tod einerseits, die Geschäftemacherei, die damit betrieben würde, andererseits; den Wunsch, Leiden auf Wunsch des Leidenden zu verkürzen, einerseits, die damit verbundene Missbrauchsgefahr andererseits; die Unverletzbarkeit der Selbstbestimmung des Menschen - auch im Tod - einerseits, die Unverletzlichkeit des Lebens andererseits.

Für und Wider fiktiv dargestellt

Kann, soll, muss die Medizin alle Möglichkeiten nützen, das Leben zu verlängern, fragt Björn Kern. Oder darf, soll sie auf diese Möglichkeiten gegebenenfalls verzichten? Verlängern immer neue medizinische Errungenschaften das Leben - oder verlängern sie oft nur das Sterben?

Warum soll es natürlicher sein, einen Menschen an Schläuchen und Maschinen langsam verenden zu lassen, rief Miller, natürlicher, als eben jene Maschinen abzustellen? Kann es sein, wie die Kirchen meinen, dass der Einschaltknopf einer Atemmaschine gottgegeben ist, der Abschaltknopf hingegen ein Werk des Teufels?

Das lässt Kern seinen Sterbe-Arzt Hendrik Miller fragen. Der Autor beantwortet diese Fragen nicht. Er stellt das Für und Wider, die positiven und auch die nicht wünschbaren Folgen einer Legalisierung von Sterbehilfe in einer fiktionalen Geschichte dar. Eine Position bezieht er selbst nicht, das überlässt er dem Leser – und das ist auch gut so.

Man kann diesen manchmal recht drastischen Roman mögen oder auch nicht. Ein gewichtiger Beitrag zur Diskussion um Sterbehilfe angesichts immer neuer medizinischer Möglichkeiten der Lebens- und damit oft nur Leidensverlängerung, ist er allemal.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipp
Kulturjournal, Freitag, 4. Jänner 2008, 16:30 Uhr

Buch-Tipp
Björn Kern, "Die Erlöser AG", C. H. Beck Verlag