Deutsche Zeitungen und ihre neue Leserschaft
Die neue deutsche Welle
Wer mehr von seiner Pension haben möchte, zieht nach Ungarn. Aber Ungarisch zu lernen ist mühsam. Froh sind die Pensionisten über die traditionsreichen Zeitungen der deutschsprachigen Minderheit. Froh sind auch die Zeitungen über die neuen Leser.
8. April 2017, 21:58
Pensionisten, Geschäftsleute, Touristen und Studenten aus dem Westen sind die neue dankbare Leserschaft der deutschsprachigen Zeitungen in Osteuropa. Der Großteil der traditionellen Minderheiten ist längst in den Westen abgewandert.
Moskauer Deutsche Zeitung
Jochen Stappenbeck ist seit April 2007 Chefredakteur der "Moskauer Deutschen Zeitung". 1870 gegründet, wurde sie ab dem Ersten Weltkrieg verboten und 1998 vom Internationalen Verband der deutschen Kultur" (IVdK) neu initiiert.
Der gebürtige Bayer ist einer von drei Deutschen im fünfköpfigen Redaktionsteam. Mit gesellschaftlichen und politischen Analysen will man im Ausland vorherrschende Klischees über das mafiöse, Wodka trinkende Russland relativieren, ohne dabei mit dem Strom der weitgehend regierungstreuen Presse zu schwimmen.
Russisch für Deutsche
Von der traditionellen deutschen Minderheit liest aber kaum jemand mehr die Zeitung: "Die ältere Generation der Russlanddeutschen kann kein Deutsch: Jedes Zeichen von Minderheitenzugehörigkeit wirkte sich im Kommunismus nachteilig für die Menschen aus. Heute wird zwar wieder viel mehr Deutsch gelernt, gleichzeitig wandern aber die jungen Russlanddeutschen in Scharen ab nach Westen", meint Steppenbeck.
Deshalb erscheint im wöchentlichen Wechsel die zum Verlag gehörende russischsprachige Zeitung "Moskowskaja Nemezkaja Gaseta" (MNG). Während die MDZ mit einer Auflage von 25.000 kostenlosen Exemplaren von deutsch lernenden Russen, Geschäftsleuten, Touristen und Studenten gelesen wird, hat die russischsprachige Zeitung (Auflage 15.000) die traditionelle deutsche Minderheit als Zielgruppe. Sie fokussiert Geschichte und Traditionen der Russlanddeutschen.
Putin unterstützt deutsche Minderheit
Im Gegensatz zur MDZ wird die MNG vom russischen Außenministerium unterstützt. Die deutsche Zeitung bekommt dafür Volontäre und projektbezogene Unterstützung vom deutschen Institut für Auslandsbeziehungen (ifa).
Völlig unverhofft hat sich die Minderheitenpolitik Putins in letzter Zeit gewendet. So sprach der Präsident beim Forum der Russlanddeutschen im November 2007 den Russlanddeutschen eine Förderungssumme von 84 Millionen Euro bis 2012 zu - das Doppelte der Unterstützung aus Deutschland. "Die Regierung möchte diese Leute jetzt im Land behalten", überlegt Steppenbeck. Das Stereotyp der fleißigen, pünktlichen Deutschen mache sie zu begehrten Arbeitskräfte auf dem wachsenden russischen Markt.
Boom deutscher Zeitungen in Osteuropa
65 Prozent der weltweit cirka 3.400 deutschsprachigen Medien im Ausland befinden sich in den osteuropäischen Staaten. Weltweit älteste Zeitung ist die "St. Petersburger Zeitung" von 1727, größte ist die Südtiroler "Dolomitenzeitung" mit einer täglichen Auflage von 50.000.
Derzeit gibt es einen regelrechten Boom deutschsprachiger Zeitungen. Um zehn Prozent Zuwachs verzeichnete die Internationale Medienhilfe (IMH) seit 1990, die meisten davon in Osteuropa, wo pro Jahr drei bis vier neue Publikationen hinzukommen.
Überleben nur mit Förderungen möglich
Zum Teil liegt das am "ethnischen Revival" der während des Kommunismus unterdrückten Minderheiten. Wichtiger ist aber die Position als einzigartige Informationsquelle für die neuen Lesergruppen der Touristen und Geschäftsleute, sowie Leser aus dem deutschen Sprachraum.
Gut geht es den Zeitungen allerdings nicht - ohne Förderungen der Staaten und Medienorganisationen könnten sie sich kaum halten.
Pester Lloyd
"Neudeutsche" nennt der Ungar-Deutsche Andre Heltai-Hopp die Leserschaft seiner Zeitung. Der stellvertretende Chefredakteur der auflagenstärksten fremdsprachigen Wochenzeitung in Ungarn "Pester Lloyd" (bis zu 20.000 Exemplare) erzählt von "zehntausenden deutschen und österreichischen Rentnern, die sich am Balaton und anderswo in Ungarn angesiedelt haben, weil das Leben dort billiger ist."
Seit 2004 hat die 1854 gegründete Zeitung daher einen zwei bis vier Seiten langen "Wiener-Lloyd", mit dem sich die nach Ungarn gezogenen Österreicher über die kulturellen Ereignisse der Nachbarstadt auf dem Laufenden halten.
Die Hälfte der Leser kommt allerdings aus dem deutschsprachigen Ausland. Nicht ausgewanderte Ungardeutsche, sondern Österreicher und Deutsche schätzen die Zeitung für ihre Qualität und Unabhängigkeit, die in Ungarn sonst kaum zu finden ist.
Narrenfreiheit
Eine gewisse Narrenfreiheit in Sachen politsicher Berichterstattung genießen die Zeitungen wohl auch dank der Fremdsprachigkeit und kleinen Auflage, meint Heltai-Hopp. Auch Steppenbeck erwähnt, dass sich seine Angst vor Zensur noch nie bewahrheitet hat.
Politischer Druck auf Minderheitenpresse ist in Osteuropa seit der Wende nicht bekannt, so die IMH. Unerwarteter Weise gibt es den eher in Westeuropa, insbesondere in Frankreich: So dürfen die Elsässer keine rein deutschsprachige Zeitung herausbringen.
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