Vernunft, Wissenschafts- und Fortschrittsglaube

Der Abschied vom Credo der Moderne

Wir sind nie modern gewesen, behauptet der französische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour in einem seiner Schlüsselwerke und stellte dabei die Grundannahmen der Moderne in Frage. Doch was waren wir dann?

Wir sind nie modern gewesen, behauptet der französische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour in seinem Buch mit einschlägigem Titel. Mit dieser These reiht er sich ausdrücklich nicht unter die postmodernen Kritiker an der Moderne und deren Illusionen ein. Latour geht einen radikalen Schritt weiter und stellt die Grundannahmen der Moderne in Frage.

Charakteristika der Moderne

Die Moderne wird im Allgemeinen mit drei Entwicklungen in Verbindung gebracht: der Aufklärung und Säkularisierung - also der im 17. Jahrhundert beginnenden Emanzipation des Menschen von traditionellen und stark religiös geprägten Weltvorstellungen; der im 18. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung; und der Französischen Revolution von 1789.

Vernunft, Wissenschafts- und Fortschrittsglaube gelten als bestimmende Charakteristika der Moderne. Wesentlich für das Projekt der Moderne ist die rigorose Trennung zwischen Natur und Kultur, Natur und Gesellschaft.

Grundlegende Unterschiede

In seinem von Gustav Roßler ins Deutsche übertragenen Buch “Wir sind nie modern gewesen” nennt Bruno Latour ein weiteres grundlegendes Merkmal der Moderne: "Das Wort wird immer im Verlauf einer Polemik eingeführt, in einer Auseinandersetzung, in der es Gewinner und Verlierer, Alte und Moderne gibt. 'Modern' ist daher doppelt asymmetrisch. Es bezeichnet einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit, und es bezeichnet einen Kampf, in dem es Sieger und Besiegte gibt."

Mit der Moderne wurden grundlegende Unterschiede zwischen dem - angeblich - modernen westlichen Menschen und den Angehörigen anderer Kulturen konstruiert: Diese hätten eine unzureichende Kenntnis der Natur und keine echte Naturwissenschaften, sie würden eine größere Irrationalität aufweisen und hätten einen unvollkommeneren Diskurs.

Die Rollen der Soziologie und der Anthropologie

Diese Sichtweise beruht nach Ansicht von Latour zu einem wesentlichen Teil auf der Aufspaltung der westlichen Wissenschaften: Die Soziologie war für die Modernisierung in Europa zuständig. Die Ethnologie respektive die Anthropologie waren bemüht, Informationen über jene Menschen einzuholen, die noch nicht ins Zeitalter der Moderne eingetreten waren. Latour selbst erkennt konstitutive Elemente der angeblichen Moderne - wie die Trennung in Gesellschaft, Natur und Technik - nicht an. Er fordert eine symmetrische Herangehensweise an alle Gesellschaften.

Auch Erhard Schüttpelz, Professor für Medientheorie an der Universität Siegen, sieht in der Trennung in Naturwissenschaften, Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften und Kultur- oder Geisteswissenschaften ein großes philosophisches Problem, das der Westen erst in den Griff bekommen muss.

Erhard Schüttpelz ist Mitherausgeber des ersten Buchs im deutschsprachigen Raum, das sich den Thesen von Bruno Latour widmet. Das Werk mit dem Titel “Bruno Latours Kollektive” erscheint im Rahmen eines kleinen Latour-Schwerpunkts im Suhrkamp-Verlag. Ende 2007 kam Latours “Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft” heraus, dieser Tage erscheint die Neuauflage seines Buches “Wir sind nie modern gewesen.”

Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 23. Jänner 2008, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Bruno Latour, "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft", Suhrkamp 2007

Bruno Latour, "Wir sind nie modern gewesen", Suhrkamp 2008

Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz, "Bruno Latours Kollektive", Suhrkamp 2008