MIDEM Classical Award an Penderecki

Zeitgenössische Musik

Christian Scheib über die Nominierten zum MIDEM Classical Award der Kategorie "Contemporary" und dessen Gewinner.

Mittwochabend hat die Gala zur Verleihung der MIDEM Classical Awards in Cannes stattgefunden. In der Kategorie "'Contemporary" waren Luciano Berio, Erkki-Sven Tüür und Krzysztof Penderecki nominiert. Aus dem Trio ging Letzterer als Sieger hervor, eine CD mit Penderecki-Werken aus drei Jahrzehnten, dirigiert von ihm selbst.

Erkki-Sven Tüür

Musik aus Estland: Das kann man ganz neutral hören als Angabe, wo Musik herkommt. Aber eigentlich geht das bei Estland - wie bei einigen anderen Ländern auch - nicht. Da ist viel zu viel Aufgeladenheit mit Nationalem, mit nationaler Selbstfindung und Identität spürbar, als dass es sich bloß um eine Ortsangabe handeln würde. "Estnisch" meint heutzutage immer auch "nicht-mehr-sowjetisch", "estnisch" meint immer auch "prä-christlich schamanisch", "estnisch" meint meistens auch "Vokaltradition, Chorgesang" und zu guter letzt auch noch bedeutet es ein Vertrauen in das große Gefühl, ungebrochen.

Der Komponist Erkki-Sven Tüür ist einer jener, die an dieser Charakteristik von vieler estnischen zeitgenössischen Musik tatkräftig mitgebaut hat - von den lateinisch benannten Rockbands seiner Jugend bis zu den voluminösen Symphonien für das Nationalorchester der Gegenwart. Genau so eine Symphonie ist auf jener Erkki-Sven-Tüür-CD drauf, die es ins Schlusstrio der Nominierten des MIDEM Classical Music Awards geschafft hat. Eingespielt vom Estnischen nationalen Symphonieorchester, dirigiert von Paavo Järvi.

Die Siegerproduktion

Ebenfalls eine Nominierung für den MIDEM Classical Award erreichte eine CD mit Musik von Krzysztof Penderecki. Diese Aufnahme setzte sich als Siegerproduktion durch. Die Besetzung klingt fast genauso national wie die Produktion mit Musik von Erkki-Sven Tüür: Es spielt das Nationale Polnische Radiosymphonieorchester Katowice, dirigiert vom polnischen Großmeister Penderecki selbst.

Dieser hatte ja in den späten 1960er Jahren als einer der effektvollsten Experimentatoren zu den beliebtesten zeitgenössischen Komponisten gezählt. Als er dann aber viele Jahre später eine immer konservativer werdende Haltung zeigte, kippte das Verhältnis zur Musikwelt. Heftige Diskussionen, die nicht nur aufs Ästhetische beschränkt blieben, waren die Folge. Wenn nun Krzysztof Penderecki eine CD veröffentlichen lässt mit Musik von ihm aus den Jahren 1967, 1971 und 2002, dann ist das auch ein deutlicher Versuch, sich aus dieser Spaltung endlich wieder zu befreien, und den experimentierfreudigen Penderecki der frühen Jahre mit dem eher postromantischen der späteren Jahre zusammenzuführen.

Orchesterstudie und Klavierkonzert
Eine erstaunlich energetische und zugleich detailgenau formulierte, siebenminütige Orchesterstudie aus 1971 ist dabei, und der Titel verrät: Es ging Krzysztof Penderecki tatsächlich um eine Art künstlerischer Klangforschungsarbeit: "De natura Sonoras, Nr. 2".

2002 entstand das Klavierkonzert mit dem Untertitel "Auferstehung". Aus dem Aufbruchsgeist ist ein Konsolidierungsgeist geworden, aber das sagt ja noch nicht notwendigerweise etwas über die Qualität der Musik. Zu Charakteristik und Absicht der Musik könnte man anmerken, dass Krzysztof Penderecki ja in den polnisch-kommunistischen 1960er und 1970er Jahren schon dadurch angeeckt ist, dass er religiös motivierte Werke schrieb bis hin zur berühmten Lukas-Passion. Und dieses Spirituell-Religiöse scheint ihm bis heute wichtig zu sein.

Versteckte Lebenswerk-Auszeichnung?
Vielleicht hat bei der Vergabe des Preises für die beste zeitgenössische Einspielung auch eine Rolle gespielt, dass Penderecki heuer seinen 75. Geburtstag feiern wird und sich damit so eine versteckte Lebenswerk-Auszeichnung anbot.

Summe von Berios Schaffen
Zur dritten nominierten CD: Klaviermusik, eingespielt von Andrea Lucchesini. Dort findet sich eine Komposition von Luciano Berio und vielleicht sollte man hier wirklich nicht einfach von "einer" Komposition reden. Berio, der 2003 verstorben ist, verstand sie als eine Art Summe seines Lebenswerks, zumindest auf das Schaffen für Klavier bezogen, aber darin verbirgt sich natürlich mehr.

Die einsätzige, knapp halbstündige Sonate beginnt ganz unauffällig, ein oftmals wiederholtes "b" fungiert als eine Art magnetisches Zentrum, aber dann entfaltet Luciano Berio langsam und unwiderstehlich virtuos seinen ganzen Anspielungs- und Beziehungsreichtum, den er auf seine Weise schon seit Jahrzehnten in seiner Musik erklingen lässt.

Geduld gefragt
Lucchesini war in den Kompositionsprozess der Jahre 2000 und 2001 beinahe täglich via Fax und Telefon eingebunden. Das Musikdenken des ganzen 19. und 20. Klavierjahrhunderts scheint wie in einem Kaleidoskop aufzuleuchten. Aber man braucht etwas Geduld: Diese Komposition zeigt nicht gleich vom ersten Takt an, was alles in ihr steckt.