Auto- oder Antibiografie?

Russische Grotesken

Ratten, Nicht-Menschen und Werwölfe bevölkern die russische Bestsellerlandschaft seit gut zehn Jahren. Mit von der Partie: eine gottserbärmlich fluchende Großmutter und ein für todkrank erklärtes Enkelkind, verstrickt in einem seltsamen Machtkampf.

Schlägt man den Roman "Begrabt mich hinter der Fußleiste" von Pawel Sanajew auf, ist man spätestens ab der vierten Zeile gefangen. Denn wer kennt nicht irgendein Kind, das bei der Großmutter abgegeben wurde? Wer hätte noch nie einen Angehörigen der älteren Generation den in ihren Augen unwürdigen Partner eines Sprösslings schmähen gehört? Und wer könnte sich daher dem Sog des Romans nach einem solchen dritten Satz "Meine Mutter hat mich gegen einen Giftzwerg und Erbschleicher eingetauscht und meiner Großmutter aufgehalst, für die ich ein schweres Kreuz bin" entziehen?

Verständlich, dass in den meisten Rezensionen zu diesem Buch die Rede von "schwerer Kindheit", sogar von "Antibiografie" ist. Aber wer ist dieser Pawel Sanajew, und hat er wirklich andeutungsweise seine eigene Kindheit beschrieben, wie zum Beispiel der zumindest für deutschsprachige Ohren ähnlich klingende Name des Kindes Sascha Saweljew nahe legt? Nun ja, vielleicht hat Sanajew einige Grundzüge verwertet: Sein Vater, der Schauspieler Rolan Bykow, ist in Kiew geboren wie die Großmutter des Buchs, sein Großvater Wsewolod Sanajew war Schauspieler, seine Mutter war ebenfalls Schauspielerin. Aber sonst? Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Pawel Sanajew das Milieu, in dem sein Roman spielt, allerhöchstens aus Milieustudien kennt, aber nicht aus dem eigenen Heim.

Familienprojekte

Es verlangt eine gewisse Harmonie, wenn eine Familie an gemeinsamen Filmprojekten arbeitet: Vater Regisseur, Sohn Darsteller beim 1983 entstandenen Film "Chuchela / Die Vogelscheuche". Mutter Darstellerin, Sohn Regisseur im jüngsten Film Sanajews "Nulevoy Kilometr". Und eine Stiftung "Rolan Bykow", die sich um die Beseitigung von "Kulturdefiziten" kümmert und zumindest zwei Familien-Kinozentren mit fünf Vorführräumen errichtet, passt auch nicht ins triste, von Armut geprägte Bild, das der Roman zeichnet.

Nina, die fluchende Großmutter des Romans, ist - und das ist wahrscheinlich die Quelle ihres Unglücks - auf einen Schauspieler hereingefallen, was sie sich Zeit ihres Lebens zum Vorwurf machte. Raus aus Kiew per Heirat, das war der Plan der jungen Nina. Aber der Vater ihres Kindes wollte sie nicht, nahm sie nicht auf seine Tourneen mit, ließ sie, die Schwangere, als sie ihm nachgereist war, nicht bei sich wohnen, kümmerte sich nicht um sie, als sie mit ihrem Kind in einem eisigen Keller hauste. Das Kind starb, sie selbst wurde schwer krank. Und dann kam fünf Jahre später die Tochter, der sie den Tod ihres ersten Kindes nie verzieh. Deren Kind sie ihr später entriss, um ihre Tochter zu strafen. Und um sich selbst einen späten Ersatz für ihren eigenen toten Sohn zu verschaffen. Gibt es solche Leben? Könnte sich das Leben in einem Plattenbau oder einer Winzigwohnung im Moskau der 1960er oder 1970er Jahre so, voller Gram und Zank und Bitterkeit, abgespielt haben?

Bestsellerroman

26 Jahre war Pawel Sanejew, als er 1995 den Roman über den kleinen Sascha, seine Großmutter Nina und das "Flittchen" in einer Literaturzeitschrift veröffentlichte. Als der Roman 2003 in Moskau als Buch erschien, stand er monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde sogar für den russischen Booker-Preis nominiert. Und was machte sein Autor, nachdem er 1983 14-jährig in Papas Film "Chuchelo" aufgetreten ist, außer dieses Buch zu schreiben? Filmhochschule. 1990: Darsteller im Maxim-Dessau-Film "Erster Verlust". Recherchen für seine Filmprojekte. Und dann, Schlag auf Schlag, drei Filme von Pawel Sanajew als Autor, Regisseur und Verantwortlichem für den Schnitt. 2004 "Kaunasskij Blyuez", ein Kurzfilm. 2005 "Letztes Wochenende", ein auch international wahrgenommener Thriller im Jugendlichenmilieu. 2007 "Nulevoy Kilometr", ein Film über den Wert von Freundschaft und Liebe in einer gnadenlos ausbeuterischen Gesellschaft, wie zum Beispiel dem neuen Russland.

Und, nicht zu vergessen: 2002 synchronisierte er für ein Land, in dem nicht-russische Filme normalerweise mit Untertiteln in die Kinos kommen, den deutschen Indianderklamauk "Der Schuh des Manitou". Und das war nicht seine erste Arbeit dieser Art. Bleibt zu hoffen, dass seine Filme demnächst auch in deutscher Sprache zu sehen sein werden.

Neue Kultautoren

Ach übrigens: Die Ratten, die Nicht-Menschen und die Werwölfe der anderen russischen Bestseller wollte ich noch erwähnen. 1995 erschien ein Buch, in dem die Anstrengungen und Korruptionen der russischen Fremdenverkehrsindustrie auf höchst intelligente Weise zerpflückt werden. Dass von "Rattenjagd" innerhalb kurzer Zeit 35.000 Exemplare verkauft wurden, erstaunte den Autor Alexander Terechow selbst wohl am meisten. Viktor Pelewin hingegen zählte nicht erst seit seinem 2004 erschienenen Roman "Das heilige Buch der Werwölfe" zu den sogenannten Kultautoren. Aber Sergej Lukianenko toppt sie alle, mit seiner "Wächter"-Reihe, in der die Anderen, magisch begabte Nichtmenschen, über das Gleichgewicht von Gut und Böse wachen.

Ein Letztes noch: Sanajews Übersetzerin Natascha Wodin hat dem Thema Kindheit ebenfalls einen Roman gewidmet. In ihrem 1992 erschienenen Roman "Einmal lebt ich" schreibt sie an das Kind, das in ihr wächst einen langen Brief, in dem sie vom Leben eines ausgegrenzten Kindes erzählt. In ihrem Fall ist der Begriff "autobiografische Züge" berechtigt, denn Natascha Wodin kam wirklich in Deutschland als Kind ehemaliger russischer Zwangsarbeiter zur Welt, hat wirklich das Leben einer Entwurzelten in einer Flüchtlingssiedlung gelebt und musste sich auch wirklich nach dem Selbstmord ihrer Mutter mit dem immer gewalttätiger werdenden Vater auseinander setzen.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 28. Februar 2008, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Pawel Sanajew, "Begrabt mich hinter der Fußleiste", Verlag Antje Kunstmann

Alexander Terechow, "Rattenjagd" C. H. Beck Verlag

Viktor Pelewin, "Das heilige Buch der Werwölfe", Luchterhand Verlag

Sergej Lukianenko, "Die Wächter der Nacht. Die Wächter des Tages. Die Wächter des Zwielichts. Die Wächter der Ewigkeit", Heyne Verlag

Natascha Wodin, "Einmal lebt ich", dtv