Zum Funktionalismus der Auffälligkeit

Georg Franck

Im März gibt Turn On im Wiener Radiokulturhaus einen Überblick zur Architekturszene Österreichs. Die Präsentationen werden durch den Turn On Talk ergänzt. Im Mittelpunkt steht dieses Mal der Zeitsprung 1968 bis 2008. Dazu hat oe1.ORF.at auch alle Vortragenden befragt.

Die gegenwärtige Architektur ist stärker als je zuvor in der Geschichte einer Technologie der Attraktion unterworfen. Diese These vertritt der Architekturtheoretiker Georg Franck seit geraumer Zeit. "Das Auffälligste der Gegenwartsarchitektur ist ihre Auffälligkeit", so Franck, dessen "Ökonomie der Aufmerksamkeit" aus dem Jahr 1998 ein moderner Klassiker geworden ist.

Was muss Architektur aus Ihrer Sicht leisten?
Sie muss der Intelligenz, die in unserer Sinnlichkeit steckt, gerecht werden. Sie muss, anders gesagt, auch in ästhetischer Hinsicht funktionieren. Die Frage, die an schlechte Architektur zu stellen ist, ist die: Wie dumm, unempfindlich und ungebildet müsste ich sein, damit mir dieses Haus da gefällt? Das, was Architektur leisten kann, leistet diejenige, die uns darüber aufklärt, dass wir sinnlich intelligenter sind, als wir uns bisher zugetraut hatten.

Fühlen Sie sich in Ihrer Entwurfsarbeit frei, Ihre Kreativität zu entfalten, oder sehen Sie sich überwiegend äußeren Zwängen unterworfen? Wenn ja, welchen?

Gibt es so etwas, wie eine "68er Architektur" aus Ihrer Sicht, und wenn ja, welches wäre ihr herausragendes Beispiel?
Es gibt den Alt-68er in der Architektur: Rem Koolhaas. Typischweise ist er zum Neo-Kapitalisten konvertiert. Er ist einer der Hauptvertreter des neuen, des mentalen Kapitalismus, d.h. desjenigen Kapitalismus, dessen Währung die Aufmerksamkeit ist.

Wo sehen Sie die großen Kontinuitäten von 1968 bis heute, wo die Brüche?
Kontinuierlich seit 1968 hochgehalten ist die Grundhaltung der Moderne: gut = revolutionär neu oder zumindest innovativ. Bemerkenswert ist diese Kontinuität, weil nichts mehr abgedroschen, nichts klischeehafter ist als das Lob der immerwährenden Innovation. Es verhindert den unvoreingenommenen Blick auf die Geschichte der Verluste, die das 20. Jahrhundert sich geleistet hat.
Die Brücke seit 1968 liegen dort, wo der Kapitalismus des Gelds Konkurrenz von der Ökonomie der Aufmerksamkeit bekommen hat. Den maßgeblichen Tendenzen der Nachmoderne - architektonischer Pop, Dekonstruktion, Holländische Schule - ist gemeinsam, dass sie die Architektur als ein Medium funktionalisieren, das etwas präsentiert (wie Image, Firmenphilosophie oder Werbung), um Aufmerksamkeit einzufahren. Das Neue in der Architektur seit 1968 ist der Funktionalismus der Auffälligkeit.

Konnte sich die Kreativität vor vierzig Jahren freier entfalten oder wird diese Zeit im Nachhinein verklärt?
Kreativität wird immer verklärt - und verkannt -, wo sie mit der Befreiung aus dem Korsett von Regeln und Vorgaben erklärt wird. Harte Regeln und schwierige Vorgaben können die Kreativität viel besser herausreizen als die Freiheit zu tun, was man will. Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat das Heil in der Emanzipation von geregelten Formensprachen gesucht, hat aber vor allem, was den Durchschnitt betriff, deutlich gelitten. In der abstrakten Architektur war es nur noch einigen wenigen großen Meistern und Originalgenies erlaubt, bedeutende Architektur zu machen. Zugleich wurde die Architektur ein Massenprodukt, das wie eine neue geologische Schicht Länder und Kontinente überzieht. Es wäre also darauf angekommen, für einen guten Durchschnitt und dafür zu sorgen, dass auch einfache Baumeister anständige Architektur machen. Das wurde über die Präokkupation mit der Originalität und Innovation vergessen. 1968 markiert in diese Hinsicht einen absoluten Tiefstand in der architektonischen Produktion. Damals entstanden die schlimmsten Retortenstädte und Beispiele für den Beton-Brutalismus. Die 1970er Jahre waren die Hochzeit des Bauträger-Funktionalismus. Eine Nostalgie ist hier völlig verfehlt.

Karriere und Vermarktung spielen heute eine wichtige Rolle. Steht dies der Kreativität von Architekt/innen entgegen?
Karriere und Vermarktung schaden der Qualität, wenn sie den professionellen Kampf um die Aufmerksamkeit in den Vordergrund stellen. Im Kampf um die Aufmerksamkeit sind die "starken" Medien - Werbung, Fernsehen, Journalismus - nun einmal besser als die Architektur. Die Architektur verliert, wenn sie glaubt, mit diesen starken Medien in Konkurrenz treten zu sollen. Der Funktionalismus der Auffälligkeit sticht nicht durch herausragende Qualität hervor.

Spielen vergangene Entwicklungen und Traditionen für Sie als Architekt/in eine Rolle, oder dominieren Ihre Arbeit Fragen der Gegenwart?
Vergangene Entwicklungen und Traditionen sind Speicher von Erfahrung. In traditionellen Formen kann sehr viel mehr Erfahrung verkörpert sein, als eine Person, ein Team, eine einzige Generation machen können. Der Auswahlprozess, aus dem die Klassiker hervorgehen, stellt einen Prozess der Objektivierung dar, der in Sachen des Geschmacks und der sinnlichen Intelligenz leisten kann, was der Prozess der Kritik, Überprüfung und Experimentation in der Theorie und intellektuellen Produktion leistet. Wer diesem Prozess der Objektivierung keine Beachtung schenkt, bleibt sinnlich dümmer, als er/sie müsste.
Ganz besonders wichtig sind die Lektionen der Tradition und der Auswahl der Klassiker im Städtebau. Städte sind nichts, das man jeden Montag neu erfindet. Vor allem sind sie nichts, was man auf logisch deduktive Weise planen kann. Das hat die Moderne vergessen, beziehungsweise verdrängt. Deshalb hat die Moderne keinen Städtebau mehr hervorgebracht, der das Zeug zum Klassiker hätte - ganz im Gegensatz zu dem so herablassend abgetanen 19. Jahrhundert. Die Massenproduktion der ersten Welle der Industrialisierung fand auf insgesamt erstaunlichem Niveau statt. Die gründerzeitlichen Stadterweiterungsgebiete sind die jüngsten Klassiker im Städtebau. Danach ist nichts mehr gekommen, weil keine Formen mehr zur Verfügung standen, die es der großen Zahl der Architekten erlaubt hätten, "anständige" Architektur - und im Kollektiv guten Städtebau - zu machen.

Was würden Sie gerne entwerfen/bauen, wenn Sie keinen äußeren Zwängen unterworfen wären
Da ich seit längerem nicht mehr im operativen Geschäft der Architektur, sondern in der theoretischen Produktion tätig bin, betrefft mich diese Frage, wie auch die zweite nicht.

Links
TU-Wien - Institute of Architectural Sciences
Nextroom - Turn On