Der Universaldilettant

Erinnerung an Egon Friedell

Er nahm nur die Gegenwart nicht ganz so ernst wie die meisten seiner Zeitgenossen und hatte daher den Kopf frei für scharfe Analysen der absurden Wirklichkeit. Am 16. März 1938 nahm sich Friedell unter dem Eindruck der drohenden Nazi-Barbarei das Leben.

Ja, er sei reisefertig, jederzeit, er hasse zwar das Reisen, wie man wisse, habe aber, da man bekanntlich nie wisse, bei sich zu Hause in Währing ein fertig gepacktes Necessaire-Köfferchen stehen. Aber er werde es nicht brauchen, jetzt jedenfalls nicht. Denn Schuschniggs Volksabstimmung am Sonntag werde eine große Mehrheit für ein freies Österreich ergeben.

Egon Friedell sei, als er das in kleiner Freundesrunde am Freitag, dem 11. März 1938, kundtat, von heiterer Gelassenheit gewesen, wie immer. Man hatte einander im kleinen Salon der Hofrätin Berta Széps-Zuckerkandl getroffen, in der Oppolzergasse, gleich neben dem Burgtheater, und Friedell sei nicht der Einzige gewesen, der sich derart optimistisch gegeben habe, erinnerte sich die große Journalistin und Gesellschaftsdame später. So sei etwa Ödön von Horváth überraschend aufgetaucht, vor seiner Abreise nach Budapest, und habe überhaupt von einem Achtzig-Prozent-Votum der Österreicher gegen Hitler geredet, was sogar Friedell ein wenig naiv vorgekommen sei.

Jedenfalls aber habe, so erinnerte sich Zuckerkandl, an jenem Freitag in der Oppolzergasse nichts auf die persönliche Tragödie hingedeutet, die mit Egon Friedells Tod am darauffolgenden Mittwoch, dem 16. März, endete.

Mit dem Leben abgeschlossen
Die Bonhommie, die den Schrift- und Selbstdarsteller, Schauspieler, Kulturphilosophen und -historiker, Cabaretier, Dramatiker und stadtbekannten Alleinunterhalter Egon Friedell auch an diesem Freitag Nachmittag im Salon seiner von ihm hochgeschätzten Freundin Zuckerkandl scheinbar nicht verlassen hatte, dürfte ihren Grund darin gehabt haben, dass Friedell mit seinem Leben bereits abgeschlossen hatte und eben darüber, auch als gläubiger protestantischer Christ, der er war, mit sich im Reinen war.

Dass er, der nachgeborene "Uomo universale" (als solchen sah ihn, bewundernd, Hilde Spiel), der "Philosoph und Bajazzo", die ins 20. Jahrhundert verpflanzte Figur der österreichischen Barocke (so beschrieb ihn sein Freund und zeitweiliger literarischer Kumpan Alfred Polgar), dass dieser Doctor Philosophiae Egon Friedell plötzlich bemerkt hätte, dass zwei SA-Leute in sein Wohnhaus in der Gentzgasse in Wien-Währing kämen; dass er - irrtümlich - geglaubt hätte, sie kämen ihn abholen; und dass er daraufhin in Panik zum Fenster seines Eckzimmers gerannt sei und aus dem dritten Stock in die Tiefe gesprungen wäre - diese Erzählung, wie sie nachher von allen möglichen Leuten, von Freunden, von der Haushälterin, deren Familie, von anderen Überlebenden im Exil kolportiert wurde, ist vermutlich gut gemeint, aber falsch.

Dazu kommt noch die Hypothese, Friedell sei ermordet und erst dann aus dem Fenster gestürzt worden. Sie beruht auf der angeblichen Beobachtung einer Schussverletzung an dem im Übrigen unversehrten Leichnam, die der Arzt absichtlich nicht protokolliert habe. Auch sei Friedells Testament gefälscht und auf das Jahr 1928 vordatiert worden. Diese Version stammt von einem Neffen Friedells, der damit die alleinigen Erbschaftsansprüche von Friedells Haushälterin anzufechten versuchte.

Reelle Anhaltspunkte dafür sind nie aufgetaucht - wohl aber dafür, dass die Tragik um das Ende des wienerischen Weltgeistes keineswegs von anekdotischer Art war; dass die Anekdote vom Suizid aus Versehen vielmehr das Unfassbare irgendwie begreiflich machen sollte.

Das amtliche Protokoll vermerkt "Tod durch Fenstersturz".

Tatsache ist auch, dass Egon Friedell angesichts der Nazi-Barbarei seine Welt für verloren gab und sein eigenes Ende zuerst wohl nur einkalkuliert, später aber konkret geplant hatte. Und dass am Todesabend zwei SA-Rabauken an der Wohnungstür geläutet und nach dem "Juden Friedell" gefragt hatten.

Friedells Tod wurde zunächst, im nationalsozialistisch gewordenen Wien, kaum zur Kenntnis genommen - wer von den Freunden und Bekannten fliehen konnte, war geflohen. Andere verschleppten die Nazis. Friedells Wohnung ging an die Familie der Haushälterin über. Natürlich nicht, weil er es in seinem Letzten Willen - übrigens eindeutig mit eigener Hand verfasst - so verfügt hatte, sondern weil der Schwiegersohn eine Qualifikation als illegaler Nazi vorzuweisen hatte. 1945 wurde der bis dahin noch halbwegs erhaltene Nachlass samt Friedells riesiger Bibliothek geplündert und so gut wie vernichtet. Damit war auch der letzte Passus des Testaments - die Bitte, Arbeitszimmer und Bibliothek zu erhalten, sowie aus allfälligen Erträgnissen eine Stiftung für bedürftige Schriftsteller zu errichten - zynisch ad absurdum geführt.

Eine schillernde Persönlichkeit
Aus Erinnerungen und Gerüchten wurde erst Jahre später von den Überlebenden versucht, ein Bild vom Tod des Polyhistors, Universalgelehrten, Schriftstellers und vergnügt dilettantischen Genies zu rekonstruieren, das eines Friedell wenigstens in der Tragödie noch würdig wäre.
Nur: Weder Friedells Tod noch die Weltgeschichte, die ihn dazu verurteilte, waren seiner würdig.

Friedell war 1938 sechzig Jahre alt. Er war ein Koloss von einem Mann, immer noch leidenschaftlicher Junggeselle, scheinbar ungebrochen lebenslustig, Speis' und Trank (vor allem diesem) zugeneigt, Pfeife rauchend, weltläufig, redselig, geistvoller Causeur, witziger und sprachmächtiger Pointenschleuderer, nach Bedarf boshaft. "Niemand konnte einem so umwerfend charmant auf die Nerven gehen wir er." (Nina Loos).

Hinter dieser Bohemien-Maske (er war schließlich auch Reinhardt-Schauspieler) arbeitete der Privatgelehrte Egon Friedell emsig und präzise an einem grandiosen Bildungsgebäude, einer Art babylonischem Leuchtturm, wozu er sich, systematisch und ordentlich, einen ungeheuren, enzyklopädischen Wissensvorrat angelegt hatte, der ständig erneuert und ergänzt sein wollte. (Seine Verachtung von Systemen und angelernten Disziplinen bezog sich nur auf das Denken, nicht auf dessen Voraussetzungen.)

Seine bis unter den Plafond geschichteten Bücher enthielten - in seiner winzigen, gestochen wirkenden Bleistift-Schrift - unzählige Randglossen und Querverweise, und über Zettelkästen und präzise geordnete Manuskript-Konvoluten war das Ganze zu einem Netz verknüpft, in dem Friedell behaglich an seinem Weltverständnis arbeitete, aus welchem er dann Zeitungsartikel, Literatur- und Theaterkritiken, sonstige Aufsätze aller Art, Glossen und andere halbwegs einträgliche Fertigfabrikate erzeugte. Von seinen Cabaret-Schöpfungen, seinen Parodien und Persiflagen, seinen Improvisationen konnte er nicht leben (von seiner - immerhin am Burgtheater gespielten - "Judastragödie" schon gar nicht. Und von seinen Schauspielerverträgen und Übersetzerhonoraren nur unzulänglich.)

Das wissenschaftliche Werk
Der Geniestreich eines Opus Magnum wie der "Kulturgeschichten" machte ihn ja erst als Endvierziger berühmt - und sehr bald waren die 1930er Jahre da: Die mehr als 1.500 Seiten umfassende "Kulturgeschichte der Neuzeit" hatte noch in München erscheinen können, der erste Band des "Altertums" musste das schon in der Schweiz tun (die Edition des zweiten hat Friedell nicht mehr erlebt).

Der im finsteren Frühling 1938 nach Friedells Tod eilig amtierende Vermögensschätzmeister in Wien bezifferte den Wert der Verlags- und Tantiemenverträge sowie überhaupt aller literarischer Arbeiten des Schriftstellers und Philosophen Egon Friedell schlicht mit Null.

Das hatte sich in Deutschland ja schon nach 1933 mit Druck- und Publikationsverboten angekündigt. Nur ganz kurz, ein paar Augenblicke lang, hatte Friedell damals an die Möglichkeit geglaubt, die Nazis könnten die von ihm ersehnte neue Welt nach dem materialistisch-kapitalistischen Niedergang repräsentieren.

Gesprächsweise erwähnte Friedell zwar noch die vage Aussicht, die Nationalsozialisten könnten ihn als antimarxistischen Denker neben dem Kulturphilosophen Oswald Spengler zumindest tolerieren, hatte das aber insgeheim längst als Illusion erkannt.

Das scheinbar Unvermeidliche
Carl Zuckmayer berichtet von einer Begegnung mit Friedell am 9. März 1938 in der Wiener Innenstadt, bei der dieser weit sogar über das bei ihm übliche Maß getrunken habe und dann in apathische Verzweiflung verfallen sei: Er werde, wenn die Nazis kämen, Wien nicht verlassen, weil es auch anderswo keine Zukunft für ihn gäbe. Er, Friedell, sei auf die österreichische Kultur angewiesen - anderswo wäre er nichts als ein Schnorrer, eine hilflose, lächerliche Figur. Er sei nicht fähig, Entwürdigung und Entmenschung, die die Nazis unweigerlich bedeuteten, zu ertragen.

Zudem war Friedell schwerer Diabetiker, und die Zuckerkrankheit war akut geworden. Und er wusste, dass das ein familiäres Erbe war: Sein Bruder Oskar war qualvoll daran zugrunde gegangen.

Dem Schriftstellerkollegen Franz Theodor Csokor hatte Friedell gestanden, aus dem Leben gehen zu wollen, sobald es ihm nicht mehr erträglich scheinen und sobald man ihm seine Welt zerstören würde.

Csokor berichtet auch, dass Friedell ihm und einigen anderen Freunden gegenüber, die ihn knapp vor seinem Tod besuchten, um ihn doch noch zur Emigration zu überreden, resigniert und apathisch auf die Bibliothek und die Manuskriptberge gedeutet und leise gesagt habe: "Und was geschieht damit? Das ist mein Leben." Sogar die so verehrte Berta Zuckerkandl, die Friedell am 15. März mit dem Auto abholen wollte und für ihn die sichere Ausreise nach Frankreich in der Tasche hatte, musste ohne ihn aus der Gentzgasse wieder wegfahren. Er sei ohne sein geistiges Substrat und ohne seine spezielle Atmosphäre nicht lebensfähig, hatte Friedell gesagt.

Zuckerkandl wusste nicht, dass ihr Freund schon Wochen zuvor seinen Hausarzt bedrängt hatte, ihm Gift zu geben; und dass er, nachdem der nicht nachgegeben hatte, alles daran setzte, zu einer Schusswaffe zu kommen. Auch das vergebens.
Erst dann kamen die beiden SA-Leute, am späten Abend des 16. März, und brüllten an der Wohnungstür, der Jude Friedell habe frevelhafterweise vom Balkon aus auf eine Hakenkreuzfahne geschossen.

Und erst da schloss der überzeugte Christ Egon Friedell sorgsam die Zimmertür, ging zum Fenster, zog die Jalousien hoch, befestigte die Bänder, wuchtete seinen mächtigen Leib auf die Fensterbank und sprang.

Ob er wirklich noch ein "Aus dem Weg!" in die Nacht gerufen hat, wie es eine Nachbarin von vis-à-vis gehört haben wollte, weiß man nicht.

Hör-Tipp
Der Universaldilettant, Montag, 24. März, 14:05 Uhr