Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens

Der falsche Krieg

Olivier Roy ist Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze über den Islam und den islamistischen Terrorismus veröffentlicht. "Der falsche Krieg" analysiert das bisherige Scheitern des Westens nach 9/11.

Am Abend des 11. September 2001 besaß die amerikanische Regierung eine Blankovollmacht. Die öffentliche Meinung im Land war mobilisiert und entschlossen, die Schuldigen zu bestrafen. Es galt zu verhindern, dass ein Ereignis wie dieses, der erste Angriff auf amerikanisches Staatsgebiet seit 1812, sich wiederholte.

So beginnt das neueste Buch des französischen Politikwissenschaftlers Olivier Roy, einem der besten Kenner des Islamismus und des Nahen und Mittleren Ostens, und im ersten Moment denkt man vielleicht, dass man nun schon genug über den Krieg im Irak und den "War on Terror" gelesen hat.

Der Misserfolg des Westens
Doch wenige Zeilen später wird klar, dass das Buch nicht nur aktuell, sondern auch vorausschauend ist, und dass es dem Autor nicht darum geht, der scheidenden Regierung Bush Prügel nachzuwerfen, sondern darum, aufzuklären und zu warnen:

Sechs Jahre später müssen wir einen kompletten Misserfolg konstatieren: Nicht eines der Ziele von damals wurde erreicht. Bin Ladin ist bis heute am Leben, ebenso Mullah Omar, der Anführer der Taliban. Und selbst mit ihrem Tod würden die von ihnen geführten Bewegungen nicht aufhören zu existieren. Es hat seit 2001 weitere terroristische Anschläge gegeben, und die Lage in der gesamten muslimischen Welt hat sich verschlechtert. Schlimmer noch: Am meisten profitiert von der neuen Situation der Iran, Washingtons ärgster Feind, was eine neue Konfrontation befürchten lässt. Die militärische Intervention im Irak, die angeblich unverzichtbar war, um die Wurzeln des Terrorismus auszurotten, hat sich als blutiger Fehlschlag erwiesen, der offensichtlich den erklärten Feinden Amerikas in die Hände spielt: dem Iran und Al Qaida.

Ohne Umschweife macht Olivier Roy gleich in der Einführung klar:

Verantwortlich für das amerikanische Scheitern ist Washington.

Olivier Roy hält sich in seinem Buch "Der falsche Krieg" jedoch nicht lange mit dem Einsatz in Afghanistan oder dem Einmarsch in den Irak auf - zumindest nicht mit Details von Einsätzen, Verfehlungen und Misserfolgen.

Der Halbmond und das Chaos
Worum es in seinem nicht einmal 200 Seiten schlanken aber überaus gewichtigen Buch geht ist die Frage, warum die USA mit ihrer Strategie so falsch gelegen sind und warum der von George W. Bush ausgerufene Krieg gegen den Terrorismus nicht mehr Sicherheit, sondern noch größere Spannungen verursacht hat. Worum sich Olivier Roys Analyse über weite Strecken dreht, macht der französische Originaltitel deutlich: "Le croissant et le chaos" - also "Der Halbmond und das Chaos".

Die Konflikte und Umbrüche, auf die wir im Folgenden stoßen, stützen keineswegs die vorherrschende These vom Zusammenprall der Kulturen und der Konfrontation zwischen der muslimischen Welt und dem Westen, sondern sie betreffen in erster Linie die muslimische Welt selbst und spielen sich an Konfliktlinien ab, die nur in sehr geringem Maße ideologisch definiert sind: Der alten "Ablehnungsfront", die den Islamismus und arabischen Nationalismus in Gegnerschaft zu Israel und dem Westen vereint, steht die zunehmende Kluft zwischen Schiiten und Sunniten gegenüber.

Kein eindeutiger Feind
Al Qaida und die Taliban, Hisbollah und Hamas, Syrien und Iran für einen geschlossenen, starken Feind zu halten, ist ein gefährlicher Irrtum, wird in Olivier Roys Buch deutlich.

Die US-Regierung habe lange vor dem 11. September 2001 den Irak unter Saddam Hussein zum Hauptfeind erklärt. Sie habe einen Zusammenhang zwischen ihm und dem internationalen Terrorismus behauptet und sei davon ausgegangen, dass ein Regimewechsel im Irak zur Demokratisierung des Mittleren Ostens führen würde. Doch es gäbe keinen globalen Vormarsch des Islamismus und keine gemeinsame islamische Front gibt, erläutert der Autor. Vielmehr gehe durch die islamische Welt ein tiefer Riss, der durch Interventionen des Westens gefährlich größer werde.

Olivier Roy setzt der fahrlässigen Vereinfachung durch US-Politiker und westliche Medien einen beeindruckenden Aufriss der historischen, politischen, kulturellen und religiösen Komplexitäten des gesamten Raumes zwischen Marokko und Pakistan in den vergangenen vier Jahrhunderten entgegen.

Er scheint dabei das nicht einmal 200 Seiten schlanke aber immens gehaltvolle Werk sehr rasch, geradezu in einem Wutausbruch verfasst zu haben. Das Buch lässt sich dadurch einerseits sehr rasch lesen, andererseits raubt einem jedoch die Dichtheit zeitweise den Atem. Wer kein großes Vorwissen über den Mittleren Osten mitbringt, tut gut daran, sich für die Lektüre ein Lexikon, einen Atlas und eventuell ein Arabisch-Wörterbuch zurechtzulegen und das Buch als Ausgangspunkt für ein ausführliches Studium der Thematik zu nützen.

Schluss mit dem Krieg gegen den Terror
Atemraubend ist auch, wie klar Olivier Roy die nächsten Gefahrenbereiche vorhersieht, wie zum Beispiel den Angriff der Türkei auf die irakischen Kurden, der nicht lange auf sich warten ließ, oder wenn er analysiert, welche Folgen ein US-Luftangriff auf den Iran haben könnte. Seine Schlussfolgerung lautet:

In jedem Fall muss das Konzept eines weltweiten Krieges gegen den Terrorismus aufgegeben werden.

Was ist mit Al Qaida?
Al Qaida gedeihe, während sich die Amerikaner immer tiefer im Irak verstricken, schreibt Olivier Roy. Die westlichen Staaten hätten einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, wie Al Qaida funktioniert. Sie hätten geglaubt, dass es eine territorialisierte Organisation sei, die vorwiegend Araber anziehe und Christen und Juden aus dem Mittleren Osten vertreiben wolle, um dort das Land des Islam im Zeichen des Kalifats zu errichten.

Doch das Schlachtfeld von Al Qaida sehe anders aus, als das einer konventionellen Armee. Im Gegensatz zu den nationalen Befreiungsarmeen des 20. Jahrhunderts habe Al Qaida aber auch keine politische Antwort parat. Wir müssten aufhören, die Welt durch die Zerrbrille von Al Qaida zu betrachten, denn darin liege ihre einzige Macht.

Das Bild von einer muslimischen Welt, die unter dem Banner des Islam geeint ist und sich anschickt, den Westen anzugreifen, ergibt keinen Sinn. Was wir stattdessen tatsächlich sehen, zumindest im Augenblick, ist eine verstärkte Präsenz westlicher Truppen in der muslimischen Welt, von Afghanistan über den Irak bis zum Libanon, sowie Konflikte, in denen sich vor allem Muslime gegenüberstehen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Olivier Roy, "Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens." Aus dem Französischen von Ursel Schäfer, Verlag Siedler, Berlin 2008