Der Begriff Subaltern
Hindu-Witwe und kämpfende Frau
Warum können sich marginalisierte Gruppen und Personen häufig kein Gehör verschaffen? Dieser Frage geht die Kulturtheoretikerin Gayatri Spivak nach. Sie hat den Begriff "Subaltern" in das wissenschaftliche Vokabular eingeführt.
8. April 2017, 21:58
"Can the Subaltern Speak?" - Kann die Subalterne sprechen? - lautet der Titel des Essays, den die an der Columbia-University in New York lehrende Literaturwissenschafterin und Kulturtheoretiker Gayatri Chakravorty Spivak 1988 veröffentlichte.
Der Essay zählt zu den Schlüsseltexten der postkolonialen Theorie und liegt nun erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung vor.
Unterdrückt, entrechtet und marginalisiert
Gayatri Spivak hat den Begriff Subaltern nicht erfunden. Aber sie hat ihn nachhaltig in das Vokabular von Wissenschaftern und Aktivisten weltweit eingeführt. Verwendet wird er für unterdrückte, entrechtete und marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die sich mit ihren Anliegen kein Gehör verschaffen können.
Als Beispiel nennt Gayatri Spivak eine junge Inderin, die im indischen Unabhängigkeitskampf aktiv war. Als sie mit der Durchführung eines politischen Mordes beauftragt wurde, sich zu dieser Tat aber nicht imstande sah, beschloss sie, sich selbst zu töten. Doch sie wartete vier Tage zu und beging erst nach Beginn ihrer Menstruation Selbstmord.
"Sie wollte zeigen, dass der Grund für ihren Selbstmord keine unerlaubte Schwangerschaft war", sagt Gayatri Spivak. "Damit war sie das genaue Gegenteil der Sati, der Witwe, die auf dem Scheiterhaufen ihres verstorbenen Mannes verbrannt wurde. Sati beruhte auf der Hindu-Regel, wonach das Leben einer Frau von einem Mann abhängig war. Diese junge Frau wollte eine klare Botschaft aussenden: Niemand sollte glauben, dass ihr Leben von einem Mann abhängig war. Doch trotz ihres Bemühens wurde ihre Botschaft nicht gehört." Die Frauen in ihrer Familie erklärten: Oh, sie war das Opfer einer unerlaubten Liebesaffäre.
Nicht gehört und nicht verstanden
Unter Sprechen versteht sie dabei einen Akt der Kommunikation, der aus einem Reden und einem Gehörtwerden besteht.
Selbst wenn sich die Subalternen äußern, werden ihre Worte und Gesten entweder gar nicht wahrgenommen oder aber in ganz bestimmte Interpretationsmuster eingeordnet. Die Frage "Wer sind die Subalternen?“ ist somit eng mit der Frage verbunden "Wie geschieht Subalternisierung?“ also: Wie werden Personen und Gruppen zu Subalternen gemacht?
Es ist eine heute höchst relevante Frage - in der Politik, in der Wissenschaft und in den Medien. Auch die an der Universität Berlin lehrende Dokumentarfilmerin Hito Steyerl sieht sich ständig mit dieser Frage konfrontiert: Wie verschafft man beispielsweise Opfern Gehör? Wie vermittelt man deren Aussagen, ohne dass diese sofort in ein Standardrepertoire von Deutungsschablonen gepresst werden?
Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 14. April 2008, 19:05 Uhr
Buch-Tipps
Gayatri Chakravorty Spivak, "Can the Subaltern Speak: Postkolonialität und subalterne Artikulation", Verlag Turia + Kant
Vathsala Aithal, "Von den Subalternen lernen?", Ulrike Helmer-Verlag