Unterwegs im Norden Albaniens
Der Kanun lebt
Der Norden Albaniens ist geprägt von einer rauen Gebirgslandschaft. Hier haben sich noch archaische Gesellschaftsformen erhalten. So ist der Kanun, das albanische Gewohnheitsrecht, und mit ihm auch die Blutrache noch nicht ausgestorben.
8. April 2017, 21:58
Im Norden Albaniens geht es wohl noch am albanischsten zu. Im Vergleich zum mediterran geprägten und etwas wohlhabenderen Süden wurde die Region nördlich der Hauptstadt Tirana von den Politikern lange Zeit gerne links liegen gelassen. Die Machthaber kamen in der Regel aus dem Süden, wo die Volksgruppe der Tosken zuhause ist, und zeigten eine gewisse Arroganz gegenüber den im Norden beheimateten Geghen. Dadurch wurde auch kaum Geld für städtebauliche Verschönerungen aus der Hauptstadt in nördliche Richtung gepumpt. Das zeigen auch die Häuser in der Stadt Shkodra, deren Fassaden aus dem 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert freilich an wirtschaftlich bessere Zeiten erinnern.
Wer Blut nimmt...
Geprägt von einer rauen Gebirgslandschaft haben sich im Norden aber archaische Gesellschaftsformen erhalten. So ist hier der Kanun, das albanische Gewohnheitsrecht, noch nicht ausgestorben. Sogar die Blutrache ist noch im Alltag präsent. "Wer Blut nimmt, muss Blut geben", sagen die Menschen hier nach wie vor.
Geschichtlich war der Kanun sowohl Ergänzung als auch Konkurrenzrecht vor anderen staatlichen oder kirchlichen Rechtssystemen. Wenn vom Kanun die Rede ist, wird meist der Kanun des Lek Dukagjin gemeint. Der Lek Dukagjin lebte von 1410 bis 1481 und ist eine historisch eher schleierhafte Person, die ein Fürst und Weggefährte des albanischen Nationalhelden Skanderbeg gewesen sein soll. Ob er den Kanun zusammenstellte oder ihm lediglich seinen Namen gab, ist nicht überliefert.
Ursprünglich ein Ehrenkodex
Der Kanun sagt beispielsweise: "Der Mord: Das Blut ist Blut - die Buße ist Buße. Das Blut geht nie verloren." Ursprünglich war er aber eine Art Ehrenkodex und sollte Verbrechen verhindern, weil jeder wusste, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wurde.
Heute muss er oft als Rechtfertigung für rein kriminelle Akte herhalten. Wer in Blutrache lebt, ist mitunter bei jedem Schritt und Tritt gefährdet, ermordet zu werden. Deshalb war das Land früher mit Turmhäusern übersät. Darin schlossen sich Betroffene ein, bis möglicherweise ein Versöhnungsabkommen zwischen den betroffenen Familien ausgehandelt wurde. Die meisten dieser Türme wurden während der Regierungszeit von König Zogu in den 1930er Jahren und dann im Kommunismus unter Enver Hoxha abgerissen.
Kaum erschlossene Region
Trotz dieser recht exotischen Facette hat der Norden Albanien ein großes Potenzial für den Tourismus, gerade weil ein Großteil noch nicht erschlossen ist. Eine vielfältige alpine Naturlandschaf breitet sich hier aus. Von Shkodra ist man in 30 Minuten in den Bergen und genauso schnell am Meer. In Velepoje gibt es den größten Strand Albaniens.
Dass die Infrastruktur noch Aufholbedarf hat, zeigt eine Fahrt von Shkodra zum Liqeni Komanit vor, dem Koman-Stausee. Er wird vom Fluss Drin gebildet und zieht sich in Richtung Kosovo. Bei Regen wird die Fahrt auf dem von Schlaglöchern übersäten Weg zum Abenteuer. An manchen Stellen sind die Löcher wahre Krater. Rinnsale werden zu kleinen Sturzbächen.
Es ist aber auch ein Eintauchen in eine andernorts längst verblichene Lebenswelt. Schäfer weiden ihre Kühe am Rand der Straße, auf der alte Pferdekarren unterwegs sind. Viele Frauen tragen bunte Trachten. Auf dem Koman-See ist auch eine urtümliche Fähre unterwegs. Bei Schönwetter bietet eine Fahrt darauf unvergessliche Naturerlebnisse. Jede Kurve bietet neue Ausblicke auf Berge und Gipfel.
Leben im Einklang
Das Leben rundum ist freilich karg. Einige Hütten am Ufer, dazu Ziegen und Schafe. Das ist alles. Straßen aus dem Landesinneren gibt es zu den Häusern nicht. Wenn die Bewohner des Sees zum Einkaufen wollen, müssen sie mit Booten bis zur Fähre rudern, um mitgenommen zu werden. Aber dennoch machen sie einen zufriedenen Eindruck. Sie leben hier jahraus jahrein im Einklang mit der Natur.
Bleibt nur die Frage, ob das auch so bleiben würde, sollte das touristische Potenzial von Albaniens Norden einmal ausgeschöpft werden.
Hör-Tipp
Ambiente, Sonntag, 4. Mai 2008, 10:06 Uhr
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