Kafkas Briefe an Milena Jesenská

Briefe von Franz

Milena Jesenská war, wie man heute sagen würde, eine emanzipierte Frau. Zu Beginn der 1920er Jahre begann sie, die deutschen Prosatexte eines Prager Autors ins Tschechische zu übertragen. Sein Name: Franz Kafka. Ein intensiver Briefwechsel begann.

Sie muss eine außergewöhnliche Frau gewesen sein. Um zu zeigen was frau kann, durchschwamm sie eines Tages in voller Garderobe und vor Publikum die Moldau. Sie verachtete Konventionen, ging selbstbewusst auf Männer zu und ließ sie, wenn es sein musste, auch wieder fallen. Milena Jesenská war, wie man heute sagen würde, eine emanzipierte Frau.

Selbstverständlich war das keineswegs. Dennoch war die 1896 in Prag geborene Arzttochter kein Einzelfall. Obwohl die erstarrten Kaiserreiche gesellschaftspolitische Erneuerungen nur höchst ungern zuließen, war das 19. und vor allem das beginnende 20. Jahrhundert, neben vielem anderen, auch das Zeitalter der weiblichen Emanzipation. Es gab sie überall, in Frankreich, in Großbritannien und in Deutschland. Es gab sie ebenso im alten Österreich-Ungarn, der rückständigen und mürben Doppelmonarchie. Frauen studierten und wählten sich Berufe, um ihre Unabhängigkeit im Ökonomischen vorzutragen; sie lebten eine weitgehende Freiheit und Freizügigkeit hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse und Bindungen.

Mittelpunkt freizügiger Feste

Milenas Vater, Jan Jesenká, ein energischer tschechischer Mediziner und Nationalist, schickte seine Tochter demonstrativ auf ein humanistisches Gymnasium in Prag. Es trug den Namen der etruskischen Göttin Minerva, die zuständig war für die Ärzte wie für die Künstler. Die Minerva-Absolventinnen waren berühmt für ihr unkonventionelles Benehmen, in ihnen verband sich aufs innigste die weibliche mit der nationalen Emanzipation. Milena enttäuschte die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Sie war Mittelpunkt freizügiger Atelierfeste, sie interessierte sich für die schöne Literatur und begann schließlich selbst zu schreiben.

Früh schon verliebte sie sich in einen älteren Mann namens Ernst Polak, ein etwas verbummeltes Literaturgenie jüdischer Herkunft. Ihrem Vater jedoch, wie viele tschechische Nationalisten ein bekennender Antisemit, missfiel die Bindung seiner Tochter. Als sie Ernst Polak heiraten wollte, ließ er sie kurzerhand in ein Irrenhaus sperren, aus dem sie aber entwich, um Polak zu ehelichen und anschließend nach Wien zu ziehen.

Die Verbindung war nicht sehr glücklich. Polak betrog seine Frau seriell und war zudem nicht im Stande, für ein entsprechendes Einkommen zu sorgen. Milena intensivierte daraufhin ihre journalistischen und literarischen Versuche und begann, zu Beginn der 1920er Jahre, die deutschen Prosatexte eines Prager Autors ins Tschechische zu übertragen. Sein Name: Franz Kafka.

Geringe erotische Erfahrung

Der Jurist und Angestellte der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen" Franz Kafka war damals bloß einem relativ kleinen Kreis literarisch Interessierter bekannt. Ein entscheidungsschwacher Mensch, kontaktarm, voller Komplexe und Selbstzweifel. Eingesperrt in die stockbürgerlichen Lebensformen seiner Familie, unter denen er ebenso litt wie er sich ihnen selbstverständlich unterwarf, hatte er seine häufigsten erotischen Erfahrungen auf der Dienstboten- und Freudenhausebene gemacht, was ihm ein beträchtliches Sündenbewusstsein bescherte. Dreimal hatte er sich verlobt, darunter zweimal mit derselben Frau, alle diese Bindungen hatte er wieder aufgekündigt. Er sehnte sich innig nach verlässlicher menschlicher Nähe und empfand zugleich eine panische Furcht davor.

Seit 1917 litt Franz Kafka an der Lungenschwindsucht. Er unterzog sich verschiedenen medizinischen Behandlungen, fuhr aufs Land und begab sich in etliche Sanatorien. 1919 hielt er sich zur Kur in Untermais auf, einem Ortsteil von Meran in Südtirol. Dort setzte er eine bereits in Prag begonnene Korrespondenz mit Milena Jesenská fort, in der es zunächst um Editionsprobleme ging. Sie kannten einander auch persönlich, wiewohl bloß flüchtig.

Überwältigende Begegnung

Die Korrespondenz weitet sich aus. Milena bittet ihn, auf seiner Rückkehr von Meran über Wien zu fahren und sie zu sehen. Er willigt schließlich ein. Es wird eine überwältigende Begegnung, für beide, danach fährt Kafka zurück nach Prag. Die Beziehung verlagert sich zurück in die Korrespondenz. Sie treffen sich noch einmal, in Gmünd an der Grenze zur Tschechoslowakei. Bald darauf endet ihre Beziehung. In den letzten Briefen Kafkas wechselt er vom intimen "Du" wieder zum förmlichen "Sie".

Gleich bei der ersten Begegnung in Wien hatte Kafka den dringenden Wunsch geäußert, Milena möge ihn nach Prag begleiten. Sie lehnte ab. Der äußere Anlass für die Weigerung war ihre noch bestehende Ehe. Die existierte, was Kafka wusste, freilich nur mehr formell. Er selbst fühlte erstmals das Bedürfnis, sich vorbehaltlos einer Frau auszuliefern; ausgerechnet da wurde er zurückgewiesen. Kafka war tief verstört. Milenas Weigerung bestätigte ihn in seiner Überzeugung, bloß zu Misserfolgen disponiert zu sein, zum Unglück und zum Scheitern.

Erloschene Leidenschaft

So kam es, dass auch diese große erotische Leidenschaft des Dichters Franz Kafka nur wieder zu dem wurde, worauf alles in seinem Leben hinlief, zu Literatur. Seine Briefe an Milena (die ihren gingen verloren) dürfen den gleichen außerordentlichen Rang beanspruchen wie seine erzählende Prosa.

Kafka selbst hatte nach dem Ende dieser Beziehung nur noch kurze Zeit zu leben. Er starb 1924 in einem Sanatorium bei Wien an Kehlkopftuberkulose. Milena Jesenská wurde zu einer bedeutenden Publizistin in der ersten Tschechoslowakischen Republik. Gestorben ist sie 1944, als Häftling des deutschen Konzentrationslagers Ravensbrück.