Identitätspolitik im Netz
Kyrillische Domains
Bulgariens Image ist im europäischen Ausland nicht das Beste. Politiker und Künstler versuchen, das nationale Selbstbewusstsein aufzubessern. Zwar unterscheiden sie sich im Verständnis nationaler Identität, nicht jedoch im Medium: dem Internet.
8. April 2017, 21:58
"Hör auf zu jammern - und tu etwas!" Nicht etwa meine große Schwester schreit mich so an, sondern eine bulgarische Webseite namens image.bg. Und es geht hier auch nicht um individuelle Lebenskrisen, sondern um die Imagekrise eines Landes: Bulgarien.
Ein Land auf Imagesuche
Mehr noch als eine Krise: Bulgarien wird vom Rest Europas entweder gar nicht, oder anhand negativer Klischees von Kriminalität und Korruption wahrgenommen. Dass es kein klares Image des Landes gibt, ist aber auch von Vorteil, finden die Initiatoren der 2006 gegründeten Seite image.bg: Die Identität des Landes sei auf diese Weise eben immer noch eine große, weiße Leinwand, auf der ein buntes, aufregendes Bild entstehen könnte, überlässt man die Malerei nicht nur Politikern und Sensationsjournalisten. Die junge, kreative Generation soll "ihr" Bulgarienbild im Webprojekt einbringen.
"Das Internet ist (...) vor allem ein Medium, auf das man global zugreifen kann. Durch seine Interaktivität, Freiheit und Unabhängigkeit ist es die ideale Umgebung für ein Projekt, dass das gegenwärtige Image Bulgariens skizzieren möchte", so die Initiatoren.
Kyrillische Domain?
Aber auch die offiziellen Vertreter des Landes arbeiten am nationalen Selbstbewusstsein - und haben ebenfalls das Internet als idealen Raum dafür entdeckt.
Als erster Staat der Welt hat das Land bei der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) nun die Eintragung von Internet-Domains in Kyrillisch beantragt. Laut Studie der International Telecommunication Union (ITU) gab es in Bulgarien vier Millionen Internetuser im März 2008, bei 7,7 Einwohnern.
Sprache als nationales Symbol
Wie zuvor auch der russische Präsident Dmitri Medwedew verkündete, sieht das offizielle Bulgarien die kyrillische Schrift als wichtigen Teil der nationalen Identität, die es gegenüber der globalen Übermacht des Englischen zu verteidigen gilt.
Zusammen mit anderen kyrillisch schreibenden Ländern wie Weißrussland, Kasachstan, Kirgistan, Mazedonien, der Mongolei, Russland, Serbien, Tajikistan, Usbekistan und der Ukraine will man im Herbst in Sofia eine Konferenz über Domains in Kyrillisch einberufen.
Das plötzlich bekundete Interesse beider Länder hat einen einfachen Hintergrund: Auf dem 32. Treffen der ICANN im Juni in Paris beschloss man die Einführung internationalisierter "Top Level Domains" für die Praxis: Waren landestypische Sonderzeichen bisher nur auf dem so genannten "Second Level", also der Texteingabe anwendbar, sollen diese nun auch bei der Eingabe des Namens der Webseite möglich werden.
Frühestens ab Sommer 2009 wird man diese also auch in arabischen, hebräischen, oder eben kyrillischen Schriftzeichen eingeben können.
Tastaturprobleme
Wie kompliziert das Eingeben der Domain-Namen sein kann, weiß kaum ein Europäer oder Amerikaner, erklärte Roberto Gaetano vom ICANN im Interview mit der ORF-Futurezone:
"In Ländern, die nichtlateinische Zeichensätze verwenden (…) müssen die Nutzer manchmal wahre Kunststücke auf ihren Tastaturen vollbringen, um die Domain-Namen (...) eingeben zu können."
Dem Medienkünstler Petko Dourmana, Organisator von image.bg und anderen Webprojekten, ist das egal: "Ich werde bei meinen lateinischen Domain-Namen verbleiben, aber viele Populärmedien werden für die kyrillischen Domains bezahlen", prophezeit er.
Vorteile hätte die Änderung vor allem für ältere Menschen, die des Englischen nicht mächtig sind und bisher die Domains, die sie eintippen, nicht verstanden (z.B. home.bg, car.bg). Auch die Werbung wird von der Neueinführung profitieren.
Domain-Chaos?
Während sein Webprojekt zum Bild eines neuen, vielschichtigen Bulgarien vor allem durch verschiedenste informelle mediale Ausdrucksformen auf image.bg gestaltet werden soll (Filme, Fotos, online-Tagebücher), hat Dourmana im organisatorischen Bereich nicht viel für Chaos übrig:
"Generell bin ich für Diversität im Internet, aber ich denke, die kyrillische Domain wird einfach nur zu viel Verwirrung führen." Bulgaren würden trotzdem weiter die lateinischen Domains benutzen, oder gar beide. Eher vorstellen kann er sich, dass "die Russen, als größere und nationalistischere Bevölkerung, ganz zum Kyrillischen wechseln".
Gerade im Bezug auf Russland geht die Sorge um, dass sich bald auch das Internet mit der neuen Domain-Vergabe der staatlichen Kontrolle kaum mehr entziehen kann, war es doch bisher noch ein relativ freies Forum in einer repressiven Medienlandschaft.
Konstruktion nationaler Identität außerhalb Bulgariens
Mit eben diesen Themen beschäftigte sich Petko Dourmana auch als Künstler auf der Transmediale 07: "Whatever Happened to Tactical Media?" hieß seine Arbeit dort, die nach der politischen Bedeutung des Internet heute als Werkzeug für kollaborative Produktion fragte, nach Unabhängigkeit und do-it-youself Strategien.
Ein Viertel der Bulgaren sei in den vergangenen 20 Jahren ausgewandert, erzählt Dourmana, der das Image Bulgariens im künstlerischen Kollektiv von image.bg auch ganz real im Ausland zu präsentieren versucht. Die meisten der Ausgewanderten halten virtuellen Kontakt zu ihrem Heimatland und Verwandten. Und, so hofft er, malen ein bisschen was auf die große weiße Leinwand der bulgarischen Identität, bevor es die Politiker tun.
Mehr dazu in futurezone.ORF.at und oe1.ORF.at
Links
IMAGE.BG
ICANN Meeting 2008
Statistik: Internet in Bulgarien
Übersicht
- Europa medial