Momente des Umbruchs

Wir fliegen

Peter Stamm hat Erzählungen ohne Ausgang geschrieben, manche rätselhaft, viele unheimlich, alle über das kleine Leben durchschnittlicher Menschen. Aber, man spürt, es gibt Momente der Anbahnung eines schwerwiegenden Umbruchs.

Dieser Schriftsteller macht es anders. Er bohrt fingerdicke Löcher in die Wand zu Heidis Appartement, zu Lukas' Umkleidekabine, Patricks Wohnung. Und presst das Auge des Lesers ans Loch. Der sieht Menschen, die in unsichtbarer Gallertmasse festzustecken scheinen. Sie wollen ja weiter. Aber der Kleb bannt sie in der verkehrten Welt. Immerhin: Sie wissen von einer besseren, und deshalb ist nicht alles verloren.

In Peter Stamms Geschichtenband "Wir fliegen" passiert kein Abenteuer, keine Tragödie, nichts Weltbewegendes. Aber, man spürt, es gibt Momente der Anbahnung eines schwerwiegenden Umbruchs. Wenn Heide zeichnet, ist sie ihrer öden Ehe schon fast entronnen. Es fehlt nur noch ein letzter Schritt nach draußen. Wenn Angelika den kleinen Dominic mit nach Hause nehmen muss, weil seine Eltern ihn im Kindergarten vergessen haben, dann merkt sie daheim, dass ihr Freund auch nicht als Vater taugt. Wenn Daphne sich in den wortkargen, passiven Sonderling aus der Wohnung oben drüber verliebt, könnte das entweder als Kriminalfall enden oder in der Wahl eines geeigneteren Objekts.

Tunnel in die Freiheit

Peter Stamm hat Erzählungen ohne Ausgang geschrieben, manche rätselhaft, viele unheimlich, alle über das kleine Leben durchschnittlicher Menschen. Alles was passiert sind Einsichten. Ob irgendeine der Figuren eine Konsequenz aus diesen Einsichten zieht, bleibt offen.

In der Erzählung von Heidi zum Beispiel, die in "Der Schwestern" statt zur Bewerbung in die Kunsthochschule mit einem Sportartikelverkäufer ins Bett geht. "Sie wehrte sich nicht lange", heißt es in der Geschichte.

Vielleicht wollte sie es ja, der Schmerz und die Scham waren die Strafe für die Feigheit, sie besiegelten ihre Niederlage.

Aber schon parallel dazu, dass sie sich in ihr Unglück fügt, so hat man den Eindruck, gräbt Heidi einen Tunnel in die Freiheit. Sie arbeitet sehr lange an diesem Tunnel, ein Kind wächst währenddessen auf, Heide entdeckt, dass sie Frauen liebt und zeichnet Carmen, die Verkäuferin aus der Bäckerei gegenüber. Der letzte Abschnitt dieser Erzählung beginnt mit dem Satz:

Heidi stellte sich vor, wie Rainer die Zeichnungen finden würde, wenn sie nicht mehr da war.

"Ästhetische Gründe"

Die liebeshungrige Daphne aus "Die Erwartung" streckt die Arme zur Zimmerdecke, in Richtung des Mannes, der in der Wohnung über ihr Lionel-Richie-Brunfthymnen spielt. "Er ist so nah, ich kann ihn fast berühren", stellt sie sich vor. Und Lukas, Held der Geschichte "Männer und Knaben", lässt seine Badehose in der Mädchenumkleide liegen, weil er sich vorstellen mag, wie Franziska sie mitnimmt; Franziska, die er so gerne geküsst hätte, wenn sie nur ein Mal aufgehört hätte zu reden.

"Das sind eher ästhetische Gründe, warum ich an einer bestimmten Stelle aufhöre und nicht weiterschreibe", meint der Autor Peter Stamm im Gespräch. "Von daher könnte man sogar sagen, es ist mir sogar egal, was geschieht in so einer Geschichte. Es hat alles nur ästhetische Gründe."

Auf die Essenz reduziert

Peter Stamm hat seine Erzählungen perfekt austariert. Es sind auf die Essenz reduzierte Ausschnitte aus dem Leben von zwölf Menschen. Und weil die Zahl zwölf sofort die Glocken läuten lässt, sei hier nebenbei angemerkt, das zwei davon Widergänger von Joseph und Maria sind. Sie kriegen auch ein Jesuskind, das aber Sandra heißt.

Ein großer Roman sei immer eine Überforderung, meint Stamm. Deshalb gäbe es kaum einen perfekten. Bei Erzählungen sei das anders, ganz einfach, weil der Autor die kleine Form besser kontrollieren könne. Kontrolle ist ein wichtiger Begriff für den gelernten Buchhalter und kurzzeitigen Psychologiestudenten Peter Stamm. Kontrolle über das ungezügelte Chaos ausüben, das ist sein Motiv zu schreiben: "Es ist so eine Art Ordnung schaffen. (...) Wie bei einem Bild, wo man spürt, da hat ein Maler einen Ausschnitt der Welt genommen, der mir eine ästhetische Befriedigung verschafft. Während, wenn ich aus dem Fenster schaue, das sehr oft nicht der Fall ist. Ich denke, es ist die Freude an diesem schöpferischen Akt."

Der Leser als Voyeur

Peter Stamm ist keiner, der seine Leser überwältigen wollte, mitreißen, einwickeln. Es ist eher so: Er lässt uns heimlich an etwas Unheimlichem teilnehmen. Es geniert einen fast, die Menschen in ihren zähen Notlagen so lange und ausdauernd anzuschauen. Aber Peter Stamm guckt nicht weg. Und verführt einen, dabei zu bleiben.

Wenn er einen vorher gefragt hätte, hätte man gesagt: Nein, ich will diese peinlichen Blüten der Einsamkeit nicht sehen, die Zentrifugalkräfte des Selbstzweifels nicht vorgeführt bekommen, die zerstörerischen Ängste eines verlassenen Mannes nicht so eingehend studieren. Aber es ist die eigentliche Ordnung des menschlichen Lebens, über die Peter Stamm hier schreibt. Es sind Fallgeschichten, auch wenn er das nicht gerne hört und da anderer Meinung ist, Fallgeschichten nicht von Kranken, sondern von Menschen wie du und ich. Seine zwölf Geschichten sind nicht alle gleich gut, aber was sie alle können: Sie bremsen unsere Wahrnehmungsgeschwindigkeit, verlängern so die Dauer der Konzentration und beschenken uns mit einem neuen Blick, der mehr erreicht, als bloßes Wiedererkennen. "Schreiben ist eine gesteigerte Form von Leben", hat Dieter Wellershoff einmal geschrieben. Peter Stamm weiß, wie das geht.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Peter Stamm, "Wir fliegen", S. Fischer Verlag

Link
S. Fischer Verlag - Wir fliegen